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Momo

Momo

Titel: Momo
Autoren: Michael Ende
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eingestellt.
Und nun sah sie das Heer der Belagerer! Schulter an Schulter standen die grauen Herren in einer unabsehbar langen Reihe nebeneinander. Sie standen nicht nur vor der Niemals-Gasse, sondern weiter noch, immer weiter in einem großen Kreis, der sich durch den Stadtteil mit den schneeweißen Häusern zog und dessen Mittelpunkt das Nirgend-Haus war. Die Umzingelung war lückenlos. Aber dann bemerkte Momo noch etwas anderes, etwas Befremdliches. Zuerst meinte sie nur, die Gläser der Allsicht-Brille seien vielleicht beschlagen, oder sie könne noch immer nicht ganz deutlich sehen, denn ein merkwürdiger Nebel ließ die Umrisse der grauen Herren nur verschwommen erkennen.
Aber dann begriff sie, daß dieser Dunst nichts mit der Brille und nichts mit ihren Augen zu tun hatte, sondern daß er dort draußen in den Straßen aufstieg. An manchen Stellen war er schon dicht und undurchsichtig, an anderen begann er erst, sich zu bilden. Die grauen Herren standen unbeweglich. Jeder hatte wie immer seinen steifen runden Hut auf dem Kopf, seine Aktentasche in der Hand, und in seinem Mund qualmte die kleine graue Zigarre. Aber diese Rauchwolken verteilten sich nicht, wie sie es sonst in gewöhnlicher Luft taten. Hier, wo sich kein Windhauch regte, in dieser gläsernen Luft zog sich der Rauch in zähen Schleiern wie Spinnweben dahin, kroch über die Straßen an den Fassaden der schneeweißen Häuser empor und spannte sich in langen Fahnen von Vorsprung zu Vorsprung. Er ballte sich zu ekligen, bläulich-grünen Schwaden, die sich langsam aber stetig immer höher übereinander türmten und das Nirgend-Haus von allen Seiten wie mit einer unaufhaltsam wachsenden Mauer umgaben.
Momo sah auch, daß ab und zu neue Herren ankamen und an Stelle anderer, die durch sie abgelöst wurden, in die Reihe traten. Aber warum geschah dies alles? Welchen Plan verfolgten die Zeit-Diebe? Sie nahm die Brille ab und schaute Meister Hora fragend an. „Hast du genug gesehen?“ fragte er. „Dann gib mir bitte die Brille wieder.“
Während er sie sich aufsetzte, fuhr er fort: „Du hast gefragt, ob sie mich zu etwas zwingen können. Mich selbst können sie nicht erreichen, wie du nun weißt. Aber sie können den Menschen einen Schaden zufügen, der viel schlimmer ist, als alles, was sie bis jetzt getan haben. Und damit versuchen sie, mich zu erpressen.“
„Etwas noch Schlimmeres?“ fragte Momo erschrocken.
Meister Hora nickte. „Ich teile jedem Menschen seine Zeit zu. Dagegen können die grauen Herren nichts tun. Sie können die Zeit, die ich aussende, auch nicht aufhalten. Aber sie können sie vergiften.“
„Die Zeit vergiften?“ fragte Momo entgeistert.
„Mit dem Rauch ihrer Zigarren“, erklärte Meister Hora. „Hast du jemals einen von ihnen ohne seine kleine graue Zigarre gesehen? Gewiß nicht, denn ohne sie könnte er nicht mehr existieren.“
„Was sind denn das für Zigarren?“ wollte Momo wissen. „Du erinnerst dich an die Stunden-Blumen“, sagte Meister Hora. „Ich habe dir damals gesagt, daß jeder Mensch einen solchen goldenen Tempel der Zeit besitzt, weil jeder ein Herz hat. Wenn die Menschen dort die grauen Herren einlassen, dann gelingt es denen, mehr und mehr von diesen Blüten an sich zu reißen. Aber die Stunden-Blumen, die so herausgerissen sind aus dem Herzen eines Menschen, können nicht sterben, denn sie sind ja nicht wirklich vergangen. Sie können aber auch nicht leben, denn sie sind ja von ihrem wirklichen Eigentümer getrennt. Sie streben mit allen Fasern ihres Wesens zurück zu dem Menschen, dem sie gehören.“ Momo hörte atemlos zu.
„Du mußt wissen, Momo, daß auch das Böse sein Geheimnis hat. Ich weiß nicht, wo die grauen Herren die geraubten Stunden-Blumen aufbewahren. Ich weiß nur, daß sie diese durch ihr eigene Kälte einfrieren, bis die Blüten hart sind wie gläserne Kelche. Dadurch werden sie gehindert, zurückzukehren. Irgendwo tief unter der Erde müssen sich riesige Speicher befinden, in welchen die ganze gefrorene Zeit liegt. Doch auch dort sterben die Stunden-Blumen noch immer nicht.“ Momos Wangen begannen vor Empörung zu glühen. „Aus diesen Vorratskellern versorgen die grauen Herren sich immerzu. Sie reißen den Stunden-Blumen die Blütenblätter aus, lassen sie verdorren, bis sie grau und hart werden, und daraus drehen sie sich ihre kleinen Zigarren. Aber bis zu diesem Augenblick ist noch immer ein Rest von Leben in den Blättern. Lebendige Zeit ist jedoch für die grauen Herren
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