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Momo

Momo

Titel: Momo
Autoren: Michael Ende
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alles selbst durch meine Allsicht-Brille beobachtet habe, hat Kassiopeia mir inzwischen berichtet.“
„Und was ist mit den grauen Herren?“ fragte Momo. Meister Hora zog ein großes blaues Taschentuch aus seiner Jacke. „Sie belagern uns. Sie haben das Nirgend-Haus von allen Seiten umstellt. Das heißt, soweit sie eben herankommen können.“
„Zu uns hereinkommen“, fragte Momo, „können sie doch nicht?“
Meister Hora schneuzte sich. „Nein, das nicht. Du hast ja selbst gesehen, daß sie sich einfach in Nichts auflösen, wenn sie die Niemals-Gasse betreten.“
„Wie kommt denn das?“ wollte Momo wissen.
„Das macht der Zeit-Sog“, antwortete Meister Hora. „Du weißt ja, daß man dort alles rückwärts tun muß, nicht wahr? Rings um das Nirgend-Haus läuft die Zeit nämlich umgekehrt. Sonst ist es doch so, daß die Zeit in dich hineingeht. Dadurch, daß du immer mehr Zeit in dir hast, wirst du älter. Aber in der Niemals-Gasse geht die Zeit aus dir heraus. Man kann sagen, daß du jünger geworden bist, während du durch sie hindurchgegangen bist. Nicht viel, nur eben die Zeit, die du dazu gebraucht hast, sie zu durchqueren.“
„Davon hab' ich gar nichts gemerkt“, meinte Momo verwundert.
„Nun ja“, erklärte Meister Hora lächelnd, „für einen Menschen bedeutet das nicht so viel, weil er sehr viel mehr ist, als bloß die Zeit, die in ihm steckt. Aber bei den grauen Herren ist das anders. Sie bestehen nur aus gestohlener Zeit. Und die geht im Handumdrehen aus ihnen heraus, wenn sie in den Zeit-Sog geraten, so wie die Luft aus einem geplatzten Luftballon. Nur bleibt vom Ballon wenigstens noch die Hülle übrig, von ihnen aber gar nichts.“ Momo dachte angestrengt nach.
„Könnte man dann“, fragte sie nach einer Weile, „nicht einfach alle Zeit umgekehrt laufen lassen? Nur ganz kurz, meine ich. Dann würden alle Leute ein bißchen jünger, das würde ja nichts machen. Aber die Zeit-Diebe würden sich in Nichts auflösen.“
Meister Hora lächelte. „Das wäre freilich schön. Aber es geht leider nicht. Die beiden Strömungen halten sich im Gleichgewicht. Wenn man die eine aufhebt, verschwindet auch die andere. Dann gäbe es gar keine Zeit mehr…“ Er hielt inne und schob seine Allsicht-Brille auf die Stirn.
„Das heißt…“, murmelte er, stand auf und ging einige Male tief in Gedanken in dem kleinen Zimmer auf und ab. Momo beobachtete ihn gespannt, auch Kassiopeia verfolgte ihn mit den Augen.
Schließlich setzte er sich wieder und sah Momo prüfend an.
„Du hast mich da auf eine Idee gebracht“, sagte er, „aber es hängt nicht allein von mir ab, ob sie auszuführen ist.“
Er wandte sich an die Schildkröte zu seinen Füßen: „Kassiopeia, meine Teure! Was ist nach deiner Ansicht das Beste, das man während einer Belagerung tun kann?“
„FRÜHSTÜCKEN!“ erschien als Antwort auf deren Panzer.
„Ja“, sagte Meister Hora. „Auch keine schlechte Idee!“
Im gleichen Augenblick war der Tisch auch schon gedeckt. Oder war er es eigentlich schon die ganze Zeit gewesen, und Momo hatte es nur bisher nicht bemerkt? Jedenfalls standen da wieder die kleinen goldenen Täßchen und das ganze übrige goldschimmernde Frühstück: Die Kanne mit dampfender Schokolade, der Honig, die Butter und die knusprigen Brötchen.
Momo hatte in der Zwischenzeit oft mit Sehnsucht an diese köstlichen Sachen zurückgedacht und begann sofort mit Heißhunger zu schmausen. Und diesmal schmeckte es ihr fast noch besser als beim ersten Mal. Übrigens griff jetzt auch Meister Hora herzhaft zu. „Sie wollen“, sagte Momo nach einer Weile, mit vollen Backen kauend, „daß du ihnen die ganze Zeit aller Menschen gibst. Aber das wirst du doch nicht tun?“
„Nein, Kind“, antwortete Meister Hora, „das werde ich niemals tun. Die Zeit hat einmal angefangen, und sie wird einmal enden, aber erst, wenn die Menschen sie nicht mehr brauchen. Von mir werden die grauen Herren nicht den kleinsten Augenblick bekommen.“
„Aber sie sagen“, fuhrt Momo fort, „sie können dich dazu zwingen.“
„Ehe wir uns darüber weiter unterhalten“, sagte er sehr ernst, „möchte ich, daß du sie dir selber ansiehst.“
Er nahm seine kleine goldene Brille ab und reichte sie Momo hinüber, die sie sich aufsetzte.
Zuerst war da wieder der Wirbel aus Farben und Formen, der sie schwindelig machte wie beim ersten Mal. Aber diesmal ging es bald vorüber. Nach einer kleinen Weile schon hatten sich ihre Augen auf die Allsicht
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