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Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten

Titel: Mohr im Hemd oder wie ich auszog die Welt zu retten
Autoren: Martin Horvath
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in die Ringstraße ein, wir fahren vorbei an Parlament und Rathaus und Burgtheater, Donaukanal und Stadtpark lassen wir links, Hofburg und Oper rechts liegen, bis wir wieder vor dem Parlament angelangt sind und die Runde von Neuem beginnt. Draußen liegt Schnee, doch drinnen ist es heiß und stickig, alle Fenster sind geschlossen, es riecht nach Schweiß und Parfüm und Pommes frites und Ketchup. Kamal gelingt es, sich ein wenig aufzurichten und mit dem Ellbogen ein Fenster zu öffnen, Es zieht, kreischen vierzehn alte Frauen, ein breitschultriger Mann mit ärmellosem T-Shirt baut sich vor Kamal auf, schlägt ihm ins Gesicht und schließt das Fenster wieder. In dieser Stadt gibt’s nur noch Neger und Tschuschen, schimpft eine Frau hinter mir, und ihre Nachbarin pflichtet ihr bei, Tschuschen und Neger und Moslems, so tönt es auch aus der Reihe vor mir. Wien darf nicht Istanbul werden, steht in der Zeitung, die mein Sitznachbar auf dem Schoß liegen hat, vor mir und hinter mir halten die Leute die gleiche Zeitung in Händen, Wien darf nicht Istanbul werden, buchstabiert der ganze Waggon im Chor, und die Straßenbahn fährt weiter.
    Vor der Oper werden weitere Gefesselte und Geknebelte hereingebracht und an Sitze oder Haltestangen gekettet. Ein paar Reihen vor mir platziert man Mira und Alenka, Mira trägt ein grünes Krankenhausnachthemd, sie hat mindestens zehn Kilo verloren, seit ich sie zuletzt gesehen habe.
    Am Schottentor wird ein junges Mädchen hereingezerrt und in der Mitte des Wagens angebunden. Irgendwie gelingt es ihr, den Knebel loszuwerden, Ich bringe mich um, wenn ich nicht Asyl bekomme, ruft sie laut. Keiner reagiert. Sie bringt sich um, wenn sie nicht Asyl bekommt, schreibt die Zeitung und druckt ein Foto des Mädchens mit den großen braunen Augen ab, Sie bringt sich um, wenn sie nicht Asyl bekommt, wiederholt der Chor der Zeitungsleser. Das arme Kind, schreibt die Zeitung, Das arme Kind, wiederholt der Chor, und alle streichen im Vorbeigehen dem Mädchen über das seidig glänzende Haar.
    Nun soll es werden Friede auf Erden, singt man am Donaukanal, Macht hoch die Tür, die Tor’ macht weit, klingt es aus dem Stadtpark, und die ganze Stadt ist weihnachtlich geschmückt. Im Rathauspark funkelt es, Lampions und Geschenkpakete baumeln an den Bäumen, das Rathaus ist festlich erleuchtet, der Geruch von Punsch und Glühwein liegt über dem weiten Platz.
    Als wir den Schwedenplatz erreichen, öffnet der Eissalon seine Pforten zum Saisonauftakt, die Modefarbe des diesjährigen Frühlings ist Veilchenblau, Verbrechensrate stark angestiegen, verkündet die Titelseite der Zeitung auf den Schößen der Fahrgäste. Vor der Urania steigt ein Politiker mit stahlblauen Augen ein, Wien darf nicht Chicago werden, ruft er laut, Wien darf nicht Chicago werden, antworten alle im Chor, Diese Moslemkrawalle in Frankreich, gibt der Politiker vor, Wien darf nicht Paris werden, weiß die Menge, wie sie zu antworten hat, Dieser Mord in Holland, heißt es, Wien darf nicht Amsterdam werden, lautet die richtige Antwort. Es zieht, kreischen zwanzig alte Frauen, als Kamal wieder ein Fenster zu öffnen versucht, das Fenster wird geschlossen, der Ärmellose stößt Kamal in seinen Sitz zurück, der Politiker steigt aus, die Fahrt geht weiter.
    Auf dem Luegerplatz marschieren ein paar Hundert junge Männer im Stechschritt auf und ab, sie haben den Oberkörper entblößt, im Mund trägt jeder ein Kornblümlein fein, manche haben es auch ins Blondhaar gesteckt, Es gibt dreihunderttausend Arbeitslose in Österreich, und wir haben dreihunderttausend Juden im Land, sagt ein Redner, auch er mit nacktem Oberkörper, ohne die Kornblume aus dem Mund zu nehmen, für dieses Problem gibt es eine einfache Lösung. Bürgermeister Lueger winkt von seinem Sockel, Wir wehren uns dagegen, dass an die Stelle des alten christlichen Österreich ein neues Palästina tritt, pflichtet er dem Redner bei und zwirbelt den Schnurrbart, den eleganten. Ich bringe mich um, wenn ich nicht Asyl bekomme, schreit das rehbraune Mädchen, Sie bringt sich um, wenn sie nicht Asyl bekommt, antwortet der Chor. Und Nino singt für Ilarion, und Dunja spielt uns einen Walzer, und die Fesseln schneiden ins Fleisch an Händen und Füßen.
    Vor der Börse steigen vier Polizisten ein, sie haben einen schwarzen Mann in ihrer Mitte, sie führen ihn an einer Leine, er geht auf allen vieren, Sitz, bellt einer der Polizisten ihn an, und der schwarze Mann setzt sich auf den Boden,
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