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Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten

Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten

Titel: Mörderische Landschaften - Kriminelles aus dem Osten
Autoren: Sutton Verlag GmbH
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Gleich links von meinem Balkon. Ich kann die Ecke noch sehen. Da steht das Kassegewölbe, aus dem man Jahre nach seinem Tod, aber noch zu Goethes Zeiten, die Gebeine des Dichters Friedrich Schiller entnommen hatte, ohne genau zu wissen, ob es die Seinen tatsächlich sind. In dem zur Sakristei umfunktionierten Anbau am Ostende der Jakobskirche hatten sich Goethe und Christiane das Ja-Wort gegeben, sein Dank an sie, dass sie ihn so beherzt gegen die Franzosen herausgehauen hat. Also ein gemütlicher Platz bei Kaffee und nicht mehr Zigarette, aber Buch. Mein Gegenüber ist ein alter Spitzahorn mit flirrenden Blättern an den abenteuerlich verschränkten, knorrigen Ästen, der die Sonne davon abhält, ihre pralle Hitze auf meinem Balkon abzuladen.
    Egon rief also an. Ist das Jahr doch schon wieder um, dachte ich und begrüßte ihn fröhlich, wie es unsere Art ist: »Na, alter Seebär!« Aber er polterte laut und zunächst etwas wirr einige Sätze ins Telefon, wovon ich nur verstehen konnte: »Schiller ist tot!«
    »Ja«, sagte ich, »seit über zweihundert Jahren.«
    Das war eine Aufregung, als sich vor Kurzem herausstellte, dass die Gebeine, die in der Fürstengruft neben dem Sarkophag Goethes in dem Schiller zugedachten lagen, gar nicht die von Schiller waren, und man weitere Proben zum Vergleich heranziehen musste! Wahrscheinlich gehören beide untersuchten Schädel Schiller, fand ein Spötter.
    Es muss mit Egons Seefahrerei zusammenhängen, dass er in anderen zeitlichen Dimensionen denkt als unsereiner. Die alten Griechen hatten eine Zeitform, die sie Aorist nannten: Vergangenheit, Gegenwart und Zukünftiges in einem. Schwer nachvollziehbar, aber so denkt Egon, gewissermaßen altgriechisch. Und manchmal schwant mir, dass solches Denken die Dinge viel besser begreifen lässt, obwohl es unbegreiflicher ist.
    Egon war mir gelegentlich unheimlich: Er sah Ereignisse und Personen in verwirrenden Beziehungen, die sich mir nie erschlossen. Aber nach langen Jahren der Freundschaft schwante mir, dass man auch so denken konnte. Ein Denken in einer anderen Realität, falls die, in der ich denke, überhaupt eine Wirklichkeit ist und nicht nur eine gedachte, wie mich Egon gelegentlich wissen lässt. Aber in einem Punkt war ich sicher: Schiller ist seit mehr als 200   Jahren tot.
    »Egon«, fragte ich, »geht es dir gut?«
    »Es war Goethe!«, behauptete er. »Wegen Anna Amalia. Sie war Goethes Geliebte. Nix mit Frau von Stein! Ich bin da auf eine Sache gestoßen   …«, sagte er. »Ich morse dich wieder an. Ahoi!« Und dann legte er auf. Ich wusste, er würde spätestens in einem Jahr wieder anrufen. Da saß ich nun mit meinem toten Schiller auf dem Balkon. Also eigentlich eher mit Goethe, denn ich las gerade in einem Buch, das dessen Verhältnis mit der Frau von Stein in Abrede stellte. Las Egon zufällig das gleiche Buch zur gleichen Zeit?
    Seither bin ich am Grübeln. Wo sind Schillers Gebeine wirklich abgeblieben? Langsam und auf vertrackte, ich möchte mal sagen Egon’sche Weise entstand ein Verdacht, der so absurd ist wie das angebliche Verhältnis, das Goethe mit Anna Amalia und nicht mit der Frau von Stein gehabt haben soll. Obwohl Michael, ihr Ururenkel Michael, als ich ihn neulich im Park traf, gesagt hat: »Mein Gott, sie war eine junge Witwe!« Aber so etwas darf nur er sagen. Unsereiner hält sich gefälligst an die Standesunterschiede, Königliche Hoheit. Nein, Anna Amalia nicht! Es war die Frau von Stein, die Goethe liebte. Aber was ist mit Schillers Schädel, wenn die beiden infrage kommenden nicht mehr infrage kommen, weil sich durch die aufwendige Untersuchung ergeben hat, dass es weder der eine noch der andere war?
    Freund Egon, neuerdings Detektiv jenseits der Gegenwart, hatte mich angesteckt.
    Und drei Tage später rief er zu meiner größten Überraschung wieder an. »Ich komme nächste Woche längsseits«, sagte er.
    »Nach Weimar?«, fragte ich ungläubig.
    »Ja, bist du denn umgezogen?«, knurrte er zurück.
    Und Egon kam. Nach drei Tagen, ohne sich noch einmal zu melden. Er war eben da. Und ich freute mich, den alten Seebären wiederzusehen. Früher, da haben wir richtige Schiffsuntergänge gefeiert, wenn er bei mir auftauchte. Meine Frau hat sogar einmal allen Schnaps unter ihrem Bett versteckt, weil sie unsere Schnarchwettbewerbe nicht ertragen konnte, wenn wir beide endlich im Wohnzimmer auf Couch und zusammengeschobenem Sessel eingeschlafen waren.
    Also, Egon war da und etwas unruhig, wie mir
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