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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht
Autoren: Lukas Erler
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das ganze wunderbare Abendessen wieder von sich gab, und legten sie in Decken gehüllt auf das Sofa. Sie stank nach Chloroform und Erbrochenem, klagte über heftige Kopfschmerzen, wollte aber nicht ins Krankenhaus. Also hielt Elena ihre Hand, während Anna Kamillentee kochte und ich den Kaminofen in Gang setzte. Irgendwann, lange nach Mitternacht, konnten wir mit ihr sprechen, wobei ihr immer wieder die Tränen kamen.
    »Es tut mir so leid, er hat mich gezwungen, euch anzurufen, ich konnte überhaupt nichts machen. Er hat vor dem Haus auf mich gewartet. Als ich die Tür aufgeschlossen habe, hat er mir diese riesige Pistole an den Kopf gehalten und mir erklärt, was sie anrichtet. Gleich darauf hat er mich beruhigt, mir gesagt, dass er nur mit euch reden will. Wenn ich meine Sache gut mache, wenn ich überzeugend sei, hat er gesagt, passiere niemandem etwas. Ich habe ihm das nicht geglaubt, weil es Bullshit war, doch ich wollte es glauben, weil das, was er sagte, Bullshit hin oder her, eine Überlebenschance bot. Und er hatte diese vertrauliche, aufrichtige Stimme … es war erbärmlich.«
    »Nein«, sagte Anna, »das war es nicht. Weil du nichts, aber auch gar nichts anderes hättest tun können. Uns tut es leid, dass wir dich da mit hineingezogen haben.«
    »Er ist mit mir zum Leuchtturm gefahren. Ich hatte das Gefühl, dass er sich in der Gegend gut auskannte, so wie jemand, der schon oft hier war. Auf dem Parkplatz musste ich mich hinter das Lenkrad setzen, er hat mir den Sicherheitsgurt angelegt und das Tuch mit dem Chloroform auf mein Gesicht gedrückt.«
    Jette hatte mit dem Weinen aufgehört und schien jetzt sehr müde zu werden.
    »Wie seid ihr ihm entkommen?«
    »Oh«, sagte Anna und warf Elena einen langen Blick zu, »das ist eine tolle Geschichte. Die erzählen wir morgen.«
    Jette Paulsen nickte und schlief ein.
    Wir setzten uns an den Kaminofen und starrten ins Feuer. Niemand sprach. Schließlich stand Elena auf, ging in die Küche und kam mit drei Flaschen Tuborg zurück. Sie nahm einen kräftigen Zug aus ihrer Flasche und sah dann Anna und mich nachdenklich an.
    »Ich will darüber reden«, sagte sie, »jetzt gleich. Oder es wird immer zwischen uns stehen.«
    Ich nickte.
    Das Bier war eiskalt und schmeckte fantastisch.
    »Ihr fragt euch, warum ich das getan habe. Mit Grygoriew. Ich bin euch unheimlich, nicht wahr? Eine, wie sagt man auf Deutsch … eine Furie? Wie konnte sie so ausrasten? Ihn so quälen? Nicht sehr zivilisiert, oder? Ich will versuchen, es zu erklären, aber ich sage euch gleich, dass es mir nicht leidtut. Es gibt drei Antworten, und es kann sein, dass sie euch nicht gefallen:
    Erstens, ich bin ausgerastet, und Grygoriew hat es verdient. Klingt das komisch für euch? Überheblich? Für mich nicht. Nicht für jemanden, der in der Sowjetunion aufgewachsen ist. Anatol Grygoriew hat zeit seines Lebens andere Menschen verfolgt, bespitzelt, gequält und getötet. Erst für die Partei, später für Mütterchen Russland. Und er hat es gerne getan. Es war ihm egal, für welche Regierung er arbeitet. Er hat seine Arbeit geliebt. Als die Sowjetunion unterging, haben wir alle gedacht, dass die Zeiten besser würden. Sawtra budet lutschsche, nicht wahr? Doch es ist nur anders geworden. Und für diejenigen, die nicht parieren wollen, hat sich nichts geändert. Um die kümmern sich immer noch Typen wie Grygoriew. Ich habe heute Nacht dafür gesorgt, dass er sich die Namen dieser Leute merkt.
    Allerdings hätte ich das niemals gewagt, wenn der Geheimdienst ihn nicht kaltgestellt hätte. Es war ein großer Fehler von Grygoriew, uns von seiner Entlassung zu erzählen. Verbitterung und Wut sind schlechte Ratgeber. In diesem Augenblick habe ich gewusst, dass er allein dasteht, dass wir es ausschließlich mit ihm zu tun haben. Aber auch das wäre noch gefährlich genug gewesen. Er hätte uns bis ans Ende seiner Tage verfolgt. Wir konnten ihn nicht einfach laufen lassen.
    Also, zweitens, um die Sache abzukürzen: Ich habe Anatol Grygoriew misshandelt, um ihn zu brechen. Andernfalls hätte ich ihn erschießen müssen. Als ich die Pistole auf ihn gerichtet habe, wusste ich, dass es nur diese beiden Möglichkeiten gab. Ich wollte ihn nicht erschießen, und ich habe gedacht, dass ihr das auch nicht wollt. Deshalb habe ich ihm so viel Angst gemacht, dass er nie wieder in meine Nähe kommen wird. Ohne seine Typen vom Geheimdienst ist er jetzt ein Nichts.«
    Elena trank einen großen Schluck aus ihrer Bierflasche
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