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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht
Autoren: Lukas Erler
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ein großer, grauschwarzer Schatten auf. Er hatte von weitem die Form eines gigantischen Steinquaders, der nicht gerade auf den Strand aufgesetzt, sondern in einer merkwürdigen Schräglage in den Sand eingegraben schien. Das Monstrum war mindestens fünf Meter hoch und dreißig Meter lang. Als wir näher kamen, war zu erkennen, dass es keineswegs das einfache Format eines riesigen Backsteins hatte, sondern eine sehr unregelmäßige geometrische Form aufwies. Bei der zum Meer weisenden Frontseite waren die Ecken abgerundet, und auch die uns zugewandte Seite schien nicht einheitlich strukturiert zu sein. Überall gab es merkwürdige Vorsprünge und Einbuchtungen.
    »Was zum Teufel ist das?«, hörte ich Anna fragen, und die Angst in ihrer Stimme ließ den Kloß in meinem Hals anschwellen.
    »Atlantikwall«, sagte Elena.
    Ich konnte nicht umhin, ihre wirklich umfassende Allgemeinbildung zu bewundern, aber auch ich wusste, was das war. Als Sohn eines Schweden, der 1968 eine Deutsche geheiratet hatte, war ich mit Geschichten über die wenig erfreulichen Aktivitäten deutscher Soldaten in Skandinavien aufgewachsen. Während der Besetzung Dänemarks hatte die deutsche Wehrmacht eine große Anzahl befestigter Stellungen entlang der jütländischen Westküste errichtet. Sie waren Teil des Atlantikwalles, der einen Vorstoß der alliierten Truppen in die von Nazideutschland besetzten Länder stoppen sollte.
    Wir marschierten direkt auf einen Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg zu. Grygoriew hatte eine dicke Stablampe hervorgeholt, die er jetzt auf den Betonklotz richtete, dessen Wände über und über mit Graffiti besprüht waren.
    »Darf ich bitten, der Eingang ist auf der Strandseite.«
    Wir folgten dem Strahl von Grygoriews Lampe und sahen nach ein paar Schritten in einen dunklen, muffigen, etwa 18 Quadratmeter großen Raum. Im Unterschied zu anderen Bunkern und Geschützstellungen an der Westküste, die ich von früheren Besuchen her kannte, war hier die Sandverschüttung rückgängig gemacht worden. Jemand hatte den Sand so weit herausgeschaufelt, dass man bei einer Deckenhöhe von circa 2 Metern aufrecht stehen konnte. In der Mitte des Raumes gab es eine improvisierte Feuerstelle mit verkohltem Treibholz, um die herum fünf große Steine gruppiert waren, die offenbar als Sitzgelegenheit gedient hatten. Die Wände waren mit bizarren Kreidezeichnungen verziert und der Boden mit Zigarettenstummeln, Bierdosen und Kondomen übersät.
    »Setzen Sie sich«, befahl Grygoriew, »das wird eine längere Unterhaltung.«
    Der Strahl seiner Lampe wanderte über die Steine. Wir hockten uns hin, und auch Grygoriew setzte sich auf einen kleinen Felsblock, blickte wie ein Talkmaster in die Runde und ließ den Lauf seiner Pistole zwanglos von einem zum anderen wandern.
    »Was ist das hier?«, fragte Anna, »ein Partyraum für die jütländische Dorfjugend?«
    Grygoriew nickte.
    »So ungefähr. Früher gab es in diesem Bunker Radaranlagen und eine Jägerleitstation. Heute wird hier nur noch gesoffen und – wie sagt man auf Deutsch – gevögelt? Ist in jedem Fall besser für den Weltfrieden. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen, dass jemand vorbeikommt. Die Partygäste haben die Stellung aufgegeben. Es ist schon lange niemand mehr hier gewesen.«
    Grygoriew schien die Situation zu genießen. Er richtete den Strahl seiner Lampe auf Elena und ließ den Pistolenlauf mitwandern.
    »Du bist eine bemerkenswerte Frau, mein Täubchen, aber wieso dachtest du, es wäre eine gute Idee, mich zu verarschen? Hast du nicht gewusst, wer ich bin?«
    Elena schien aufgegeben zu haben. Sie hockte auf ihrem Stein, hatte ihre Ellenbogen auf die Knie gestützt und starrte auf die Zigarettenstummel zwischen ihren Füßen. Jetzt hob sie langsam den Kopf und sagte förmlich:
    »Ich habe gedacht, Genosse Grygoriew, dass Sie die Sache selbst in die Hand nehmen möchten. Auf Ihre Art.«
    Es war eine scheinbar hingeworfene Bemerkung, aber Grygoriew reagierte so vehement, dass ich vor Schreck zusammenfuhr. Er schnellte auf Elena zu, drückte den Pistolenlauf an ihre Schläfe und brachte sein Gesicht ganz nahe an ihres.
    »Ich bin nicht dein Genosse, du Miststück, du hast nicht die geringste Ahnung, was dieses Wort bedeutet.«
    »Sachte«, sagte Anna beschwörend, »lassen Sie uns alle ruhig bleiben. Sie meint das nicht so. Können Sie uns nicht einfach erklären, was Sie von uns wollen?«
    Annas Stimme klang sanft und eindringlich. Ihre Angst schien sich etwas
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