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Moerderische Fracht

Titel: Moerderische Fracht
Autoren: Lukas Erler
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noch feilen. Was kann ich für Sie tun, Herr Nyström?«
    »Ich möchte gerne Monsieur Morisaitte besuchen. Yves Morisaitte.«
    »Oh«, sagte sie erschrocken, und das strahlende Lächeln erlosch, »einen Moment, bitte!«
    Sie drückte auf einen Knopf ihrer Gegensprechanlage und sagte: »Dokter Brugmann, alsjeblieft!«
    Sie sah mich aus ernsten Augen an.
    »Es kommt jemand, der Ihnen weiterhilft.«
    Wenige Augenblicke später erschien ein groß gewachsener Mann mit grauen Schläfen, der in einen schicken, blendend weißen Kittel gehüllt war. Er sah aus wie ein Model aus einem Katalog für medizinische Berufskleidung. Auf seiner Brust war ein Schild mit dem Namen Jean-Félix Brugmann. Er gab mir die Hand und winkte mir, ihm zu folgen. Wir gingen ein paar Meter den Flur hinunter in ein kleines Arztzimmer, das nur mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einer Untersuchungsliege möbliert war. An den weißen Wänden hingen großformatige Abbildungen von japanischen Kalligraphien, die den spartanischen Charakter des Raumes zusätzlich betonten. Brugmann deutete mit einer vagen Handbewegung auf einen der Stühle, setzte sich und betrachtete aufmerksam meine Visitenkarte. Schließlich sah er mich misstrauisch an.
    »Was wollen Sie denn von Monsieur Morisaitte?«, fragte er.
    Wie viele Flamen sprach er ein passables Deutsch mit einem starken niederländischen Akzent, und ich erkannte seine Stimme wieder. Brugmann war der freundliche Oberarzt, der mir zwei Jahre zuvor, vor meinem ersten Besuch in der Klinik, ohne es zu wissen, telefonisch versichert hatte, dass meine Rache funktionieren würde: Doch, doch, hatte er damals gesagt, er versteht jedes Wort, das haben wir getestet. Aber er kann sich nicht äußern, auch nicht schriftlich.
    »Dies ist ein privater Krankenbesuch«, sagte ich, nicht übermäßig freundlich, »ich glaube nicht, dass Sie das etwas angeht, was ich von ihm will!«
    »Ich erkenne Sie wieder«, sagte Dr. Brugmann, »Sie haben ihn schon einmal besucht, und danach war er in absoluter Lebensgefahr. Ihr Besuch hat ihn so aufgeregt, dass er um ein Haar einen zweiten Schlaganfall erlitten hätte. Er war vollständig dekompensiert. Was haben Sie zu ihm gesagt?«
    »Nichts Besonderes. Reiner Smalltalk. Als ich ihn verlassen habe, ist mir nichts Ungewöhnliches aufgefallen.«
    »Was haben Sie denn überhaupt mit ihm zu tun? Sind Sie verwandt?«
    Ich war auf diese Frage vorbereitet, und die Lüge ging mir glatt von den Lippen.
    »Yves Morisaitte hat früher in Frankfurt als Krankenpfleger gearbeitet. Ich war als Psychologe eine Zeit lang in der gleichen Klinik wie er. Ich hatte zufällig erfahren, was ihm zugestoßen war, deshalb habe ich ihn damals besucht. Das würde ich auch jetzt gerne tun, wenn Sie gestatten.«
    »Tut mir leid, aber das geht nicht«, sagte Brugmann.
    »Was soll das? Wir sind alte Bekannte! Und er ist doch noch hier bei Ihnen, oder?«
    »Eben nicht!«
    Ich spürte, wie ungläubiges Entsetzen meine Stimmbänder blockierte, riss mich zusammen und räusperte mich ausgiebig.
    »Wohin haben Sie ihn verlegt?«
    »Wir haben ihn gar nicht verlegt. Monsieur Morisaitte hat unsere Klinik im Februar dieses Jahres auf eigenen Wunsch verlassen. Und zwar mit einem guten Rehabilitationsergebnis, wie ich betonen möchte.«
    »Was heißt das?«
    »Nun, zunächst einmal war er ja rein kognitiv nicht betroffen, das heißt, er kann ohne jede Einschränkung klar denken. Das Sprachverständnis ist ebenfalls in Ordnung. Unsere Physiotherapeuten konnten die Halbseitenlähmung so weit bessern, dass er wieder laufen kann. Er ist noch nicht wirklich unabhängig vom Rollstuhl, doch seine Gehstrecke betrug am Entlassungstag mit Vierpunktstock immerhin etwa einhundert Meter. Die Aphasie wurde ebenfalls erfolgreich behandelt. Er kann wieder sprechen, wenn auch nicht wie Sie und ich. Es ist eine Art Telegrammstil. Die Sprachtherapie fand zunächst in Französisch und Flämisch statt und kam nicht recht voran. Einen Durchbruch erzielten wir, als eine unserer Kolleginnen ihn zufällig auf Deutsch ansprach. Er reagierte, als ob das seine Muttersprache wäre.«
    »Ja, er sprach perfekt Deutsch«, sagte ich und dachte daran, wie weit sie wohl gekommen wären, wenn Sie es auf Serbokroatisch probiert hätten.
    Dr. Brugmann nickte bedächtig. Er war jetzt nicht mehr so misstrauisch, aber immer noch wachsam.
    »Egal«, sagte er, »was zählt, ist der Erfolg, nicht wahr? Sie möchten wahrscheinlich wissen, warum ich Sie überhaupt
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