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Mobile Röntgenstationen - Roman

Mobile Röntgenstationen - Roman

Titel: Mobile Röntgenstationen - Roman
Autoren: ATHENA-Verlag e. K.
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Verantwortungsgefühl. Kaum waren die Prüfungen zum Sommersemester beendet, wurde ich, nicht weit von der Grenze zu Volkspolen entfernt, in ein Pionierlager gesteckt, um dort die Gruppe der Älteren zu leiten. Nicht gerade ans Herz gewachsen waren mir diese Pioniere, freche und dreiste Halbwüchsige aus Kaunas, Kapsukas und Alytus, Städte, die sich durch provinzielle Arroganz auszeichneten. Die Jungen, beinahe alle, schwammen schlecht, und der See erstreckte sich gleich neben dem Hof des Lagers, eingerichtet in einer im Sommer leer stehenden Mittelschule. Es war warm, die Kinder zog es verständlicherweise ständig zum Wasser hin, und der Lagerleiter, ein ergrauter Schürzenjäger, Lehrer für Sport und Geschichte, pflegte ständig zu wiederholen: Passiert was und es ertrinkt einer, bist zuerst du verantwortlich, dann erst ich!
    Auch deshalb hasste ich diese Gören. Die Natur hier war prächtig, ich wollte allein spazieren gehen, mit dem Kahn hinausrudern und ein Bier trinken, mich überhaupt ein wenig von der Stadt erholen und haftete gleichsam für zwanzig und mehr Kinderleben. Dieser See neben der Schule führte unmittelbar ins Tiefe, ein paar Meter vom Ufer reichte er einem schon über den Kopf. Eine richtige Badeanstalt, gelb gestrichen, gab es erst einen guten Kilometer weiter, am anderen Seeufer. Der Lagerleiter, der stets einen etwas versoffenen Eindruck machte, pflegte zu erzählen, wie einst beim Lesen, in einem angeketteten Kahn sitzend, sein bester Studienfreund ins Wasser stürzte und ertrank, das war allerdings an einem anderen See passiert, aber trotzdem! Und was für Gedichte er geschrieben, wie viele Mädchen er gehabt hatte! Und wie ein anderer Freund auf noch dümmere Art ums Leben gekommen war, die Beine draußen im Trockenen, den Kopf im Wasser. Der sei selbst schuld gewesen, habe es zu arg getrieben. Ertrunken, obwohl er schwimmen konnte wie ein Hecht. Heute pfeife ich auf solche Tiraden, damals jagten sie mir einen Schreck ein. Ich scheuchte, was albern war, die Kids immer wieder vom Wasser weg, wofür sie mich noch mehr hassten. Mit Ausnahme eines Jungen aus Kaunas, der sich dem See nicht mal näherte und die ganze Zeit in Schuhen herumlief. Wegen mir hasste die Meute dann auch ihn. Ich selbst badete, schwamm und ruderte mit Leidenschaft, war ich doch am Wasser aufgewachsen, das ich später überall vermisste, besonders in der Stadt. Deshalb war ich noch vor dem ersten Trompetenstoß auf den Beinen, schwamm, tauchte und ging dann frühstücken, frisch und munter, ohne die drückende Last der Verantwortung.
    An so einem trüben, ja kühlen Morgen, als ich wieder baden war, erblickte ich neben einem Kahn, im Evakostüm, die aus dem Wasser steigende Lucija, Lehrerin der russischen Sprache im ersten Jahr, drei oder vier Jahre älter als ich, flachbrüstig und dürr wie ein Wacholderstrauch. Dennoch war sie ein weibliches Wesen, daran zweifelte ich nicht, obwohl es da vor mir nicht viel zu verbergen gab. Als sie mich erblickt hatte, spielte sie sehr natürlich die Erschrockene, vielleicht sogar eine, die sich schämte, dann grinste sie bis über beide Ohren und sprang wie ein Goldfisch zurück ins kalte Wasser. Hin und wieder hatten wir schon das eine oder andere Wort gewechselt, in dienstlichen Angelegenheiten, Lucija beaufsichtigte eine Schar älterer Mädchen. Da gab sie sich oft arrogant und spielte die Allwissende. Jetzt, nachdem sie es schon bis zur Mitte des Sees geschafft hatte, machte sie kehrt, schwamm zurück, klammerte sich an das Heck des Kahns und erklärte, schwer atmend, dass das ihr Platz sei und sie ihn nicht zu wechseln gedenke. Ob ich wenigstens einen Funken Schamgefühl hätte, fragte sie und befahl mir anschließend, mich umzudrehen und mir die Augen zuzuhalten. Ich drehte mich um, aber an den zweiten Teil der Anweisung hielt ich mich nicht, kicherte nur leise. Noch hatte ich damals die dumme Angewohnheit, vor allen Respekt zu haben, wenn sie nur ein paar Jahre älter waren, oder ihnen aus dem Wege zu gehen, besonders wenn sie weiblichen Geschlechts waren. Lucija stieg rasch in ihren geblümten Sarafan, ich tauchte ins Wasser und schwamm fast bis zum anderen Ufer, und als ich wieder am diesseitigen ankam, saß Lucija im Kahn, rauchte eine Zigarette, um mich, mit ein wenig zusammengekniffenen Augen, zu beobachten. Ihre Haare waren noch nass, aber dennoch sehr rot. Sicher leuchten sie sogar in der Dunkelheit, dachte ich aus irgendeinem Grund. Ich nahm neben ihr im Kahn Platz
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