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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Stadt
für immer davontrug, verabschiedeten sich die Leute vom Machua Basar mit Tränen in den Augen von ihr. Sie war noch fast ein Kind, als das Schicksal sie mitnahm und nie wieder zurückbrachte.
    Aryami hockte sich zu den Kindern vors Feuer und presste die alte Fotografie an ihre Brust. Der Sturm heulte erneut auf, und Aryamis Zorn gab ihr die Kraft, zu entscheiden, was sie nun tun sollte. Leutnant Peakes Verfolger würde sich nicht damit zufriedengeben, ihn zu töten. Peakes Mut hatte ihr einige kostbare Minuten geschenkt, die sie unter keinen Umständen verschwenden durfte, auch nicht, um ihre Tochter zu beweinen. Die Erfahrung hatte sie gelehrt, dass die Zukunft ihr unerträglich viel Zeit geben würde, die Fehler der Vergangenheit zu bereuen.
     
    Sie legte die Fotografie in das Kästchen zurück und nahm das Medaillon, das sie vor Jahren für Kylian hatte anfertigen lassen, ein Schmuckstück, das sie nie getragen hatte. Das Medaillon bestand aus zwei Goldscheiben, einer Sonne und einem Mond, die genau aufeinanderpassten und so eine Einheit bildeten. Als sie auf das Medaillon drückte, trennten sich die beiden Teile. Aryami befestigte an jeder der beiden Scheiben ein Goldkettchen und legte sie den Kindern um den Hals.
    Während sie damit beschäftigt war, dachte die Frau darüber nach, welche Entscheidungen sie nun treffen sollte. Es schien nur einen Weg zu geben, damit die Kinder überlebten: Sie musste sie trennen, ihre Vergangenheit auslöschen und ihnen selbst und der Welt ihre Identität vorenthalten, so schmerzhaft das auch sein mochte. Sie konnte sie nicht zusammenlassen, ohne dass sie sich früher oder später verrieten. Es war ein Risiko, das sie um keinen Preis eingehen durfte. Und sie musste unbedingt noch vor dem Morgen eine Lösung für dieses Problem finden.
    Aryami nahm die beiden Babys auf den Arm und küsste sie zärtlich. Die kleinen Händchen streichelten ihr Gesicht, und winzige Finger tasteten nach den Tränen, die ihre Wangen hinabrannen, während fröhliche Augen sie ansahen, ohne zu begreifen. Sie drückte die Kinder noch einmal an sich und legte sie dann in das Bettchen zurück, das sie für sie hergerichtet hatte.
    Gleich nachdem sie sie hingelegt hatte, entzündete sie eine Lampe und griff zu Papier und Feder. Die Zukunft ihrer Enkelkinder lag nun in ihren Händen. Sie seufzte und begann dann zu schreiben. In der Ferne konnte sie den Regen hören, der allmählich nachließ, und das Heulen des Sturms, der nach Norden davonzog und eine nicht enden wollende Sternendecke über Kalkutta breitete.
     
    Mit seinen nunmehr fünfzig Jahren hatte Thomas Carter geglaubt, dass Kalkutta, das seit dreiunddreißig Jahren seine Heimat war, keine Überraschungen mehr für ihn bereithalte.
    Doch am Morgen jenes Maitages im Jahre 1916 , nach einem der heftigsten Stürme außerhalb der Monsunzeit, an den er sich erinnern konnte, erwartete ihn eine Überraschung vor der Tür des Waisenhauses St. Patrick’s: ein Korb mit einem Kind und ein gesiegelter, an ihn persönlich gerichteter Brief.
    Es war eine doppelte Überraschung. Zum einen hielt sich in Kalkutta niemand damit auf, ein Kind vor der Tür eines Waisenhauses auszusetzen; überall in der Stadt gab es Gassen, Müllkippen und Brunnen, wo man das viel bequemer tun konnte. Und zum anderen schrieb niemand Erklärungen wie diese, samt Unterschrift, die keinen Zweifel an ihrem Absender ließ.
    Carter hielt seine Brille gegen das Licht und hauchte auf die Gläser, um sie dann mit einem groben, alten Baumwolltuch blankzuputzen, das er mindestens fünfundzwanzig Mal am Tag für diesen Zweck benutzte, in den Monaten des indischen Sommers sogar noch öfter.
    Das Kind befand sich unten im Zimmer von Oberschwester Vendela, die es aufmerksam bewachte, nachdem Dr.Woodward den Kleinen untersucht hatte. Man hatte den Arzt kurz vor Tagesanbruch aus dem Schlaf gerissen und ihn auf seinen hippokratischen Eid hingewiesen, ohne ihm weitere Erklärungen zu geben.
    Der Junge war kerngesund. Er zeigte Anzeichen von Austrocknung, schien aber nicht an einer der vielen Fiebererkrankungen zu leiden, die das Leben so vieler Kinder auslöschten und ihnen das Recht verweigerte, alt genug zu werden, um den Namen ihrer Mutter aussprechen zu lernen. Alles, was er bei sich hatte, war ein goldenes Medaillon in Form einer Sonne, das Carter nun in Händen hielt, und dieser Brief. Ein Brief, der ihn in eine vertrackte Situation brachte, falls er echt war, und es fiel ihm schwer, zu
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