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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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Kind aus Angst vor dem, was ihm zustoßen könnte, vielleicht hier in der Gegend zurückließ.«
    »Ich verstehe«, bemerkte Carter. »Und haben Sie den Vorfall den örtlichen Behörden gemeldet, Mr Jawahal? Kinderhandel wird hart bestraft, wie Sie wissen dürften.«
    Der Unbekannte verschränkte die Hände und seufzte leise.
    »Ich hoffte, die Angelegenheit lösen zu können, ohne zu diesem Mittel greifen zu müssen«, sagte er. »Wenn ich es täte, würde das Mädchen in die Sache mit hineingezogen, und das Kind hätte weder Vater noch Mutter.«
    Carter dachte eingehend über die Geschichte des Unbekannten nach und nickte dann bedächtig und verständnisvoll. Er glaubte kein einziges Wort.
    »Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, Mr Jawahal. Bedauerlicherweise haben wir weder ein Kind gefunden, noch ist uns dergleichen aus dem Viertel bekannt«, erklärte er. »Aber wenn Sie mir Ihre Adresse geben, könnte ich mich mit Ihnen in Verbindung setzen, falls ich etwas erfahre. Allerdings fürchte ich, dass ich gezwungen wäre, die Behörden zu informieren, sollte ein Kind hier im Waisenhaus abgegeben werden. So will es das Gesetz, und darüber kann ich mich nicht einfach hinwegsetzen.«
    Der Mann betrachtete Carter schweigend, ohne mit der Wimper zu zucken. Carter erwiderte seinen Blick, doch er spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte und sein Puls raste, als stünde er vor einer Schlange, die sich auf ihn stürzen wollte. Schließlich lächelte der Unbekannte freundlich und deutete auf den Raj Bhavan, den palastartigen Sitz der britischen Verwaltung, der in der Ferne im Regen zu erkennen war.
    »Die Briten halten sich bewundernswert genau an die Gesetze, und das ehrt sie. War es nicht Lord Wellesley, der 1799 beschloss, den Regierungssitz in dieses wunderschöne Gebäude zu verlegen, um seinem Gesetz mehr Gewicht zu verleihen? Oder war es 1800 ?«, überlegte Jawahal.
    »Ich fürchte, ich kenne mich in der örtlichen Geschichte nicht sonderlich gut aus«, bemerkte Carter, verdutzt über die ungewöhnliche Wendung, die Jawahal dem Gespräch gegeben hatte.
    Der Besucher runzelte die Stirn, um höflich und stillschweigend seine Missbilligung über die soeben geäußerte Unkenntnis zum Ausdruck zu bringen.
    »Mit seinen knapp zweihundert Jahren ist Kalkutta eine derart geschichtslose Stadt, dass diese zu kennen das Mindeste ist, Mr Carter. Zurück zum Thema – ich glaube, es war 1799 . Kennen Sie den Grund für den Umzug? Gouverneur Wellesley sagte, Indien solle aus einem Palast und nicht aus einem Beamtengebäude regiert werden, nach den Vorstellungen eines Fürsten, nicht eines Gewürzhändlers. Eine echte Vision, wie ich meine.«
    »Ohne Frage«, bekräftigte Carter und stand auf, um den seltsamen Besucher zu verabschieden.
    »Vor allem in einem Weltreich, in dem die Dekadenz eine Kunst und Kalkutta ihr größtes Museum ist«, setzte Jawahal hinzu.
    Carter nickte vage, ohne so recht zu wissen, warum.
    »Es tut mir leid, Ihre Zeit verschwendet zu haben, Mr Carter«, schloss Jawahal.
    »Ganz und gar nicht«, erwiderte Carter. »Ich bedaure, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen konnte. In solchen Fällen müssen wir alles tun, was in unserer Macht steht.«
    »So ist es«, beteuerte Jawahal, während er ebenfalls aufstand. »Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit. Ich möchte Ihnen nur noch eine Frage stellen.«
    »Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Carter, während er innerlich den Moment herbeisehnte, in dem er diesen Kerl endlich los war.
    Jawahal lächelte arglistig, als hätte er seine Gedanken erraten.
    »Bis zu welchem Alter bleiben die Kinder bei Ihnen, die Sie aufnehmen, Mr Carter?«
    Carter konnte sein Erstaunen über die Frage nicht verbergen.
    »Ich hoffe, meine Frage war nicht indiskret«, beeilte sich Jawahal zu sagen. »Falls dem so sein sollte, ignorieren Sie sie. Es war reine Neugier.«
    »Nein, nein. Es ist kein Geheimnis. Die Kinder von St. Patrick’s bleiben bis zu ihrem sechzehnten Geburtstag unter unserem Dach. Mit diesem Tag endet die gesetzliche Vormundschaft. Danach sind sie erwachsen – zumindest vor dem Gesetz – und in der Lage, ihr eigenes Leben zu führen. Sie sehen, dies ist eine privilegierte Einrichtung.«
    Jawahal hörte ihm aufmerksam zu und schien über das Gehörte nachzudenken.
    »Es muss traurig für Sie sein, sie ziehen zu lassen, nachdem sie so viele Jahre unter Ihrer Obhut standen«, stellte er fest. »In gewisser Weise sind Sie für die Kinder
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