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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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gerichtet, weil er befürchtete, jeden Augenblick seine Verfolger dort auftauchen zu sehen. Als sich die Tür schließlich öffnete, drehte er sich um. Das Licht einer Laterne blendete ihn, und eine Stimme, die er seit fünf Jahren nicht mehr gehört hatte, sagte leise seinen Namen. Peake legte eine Hand vor die Augen und erkannte das undurchschaubare Gesicht von Aryami Bosé.
    Die Frau sah ihn forschend an, dann fiel ihr Blick auf die Kinder. Ein schmerzlicher Schatten huschte über ihr Gesicht. Peake sah zu Boden.
    »Sie ist tot, Aryami«, murmelte er. »Sie war schon tot, als ich kam …«
    Aryami schloss die Augen und atmete tief durch. Peake merkte, dass sich die Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen in die Seele der Frau fraß wie Säure.
    »Komm herein«, sagte sie schließlich, trat zur Seite und schloss dann die Tür hinter ihm.
    Peake legte die Kinder auf einem Tisch ab und befreite sie von der durchnässten Kleidung. Aryami holte schweigend trockene Tücher und wickelte die Kinder darin ein, während Peake das Feuer schürte, damit ihnen warm wurde.
    »Ich werde verfolgt«, sagte er. »Ich kann nicht hierbleiben.«
    »Du bist verletzt«, stellte die Frau fest und deutete auf die klaffende Wunde, die er sich an dem Nagel in dem Geschäft zugezogen hatte.
    »Nur ein Kratzer«, log Peake. »Es tut nicht weh.«
    Aryami trat zu ihm und strich mit der Hand über sein schweißnasses Gesicht.
    »Du hast sie immer geliebt …«
    Peake wandte wortlos den Blick ab und sah zu den Kindern.
    »Es hätten deine sein können«, sagte Aryami. »Vielleicht hätten sie dann mehr Glück gehabt.«
    »Ich muss gehen, Aryami«, erklärte der Leutnant. »Wenn ich hierbleibe, werden sie nicht eher ruhen, bis sie mich gefunden haben.«
    Die beiden wechselten einen verzweifelten Blick. Sie wussten, welches Schicksal Peake erwartete, wenn er auf die Straße zurückkehrte. Aryami ergriff die Hände des Leutnants und drückte sie fest.
    »Ich bin nicht gut zu dir gewesen«, sagte sie. »Ich hatte Angst um meine Tochter, vor dem Leben, das sie an der Seite eines britischen Offiziers führen würde. Aber ich habe mich geirrt. Wahrscheinlich wirst du mir nie vergeben können.«
    »Das hat jetzt keine Bedeutung mehr«, antwortete Peake. »Ich muss jetzt gehen.«
    Peake trat ein letztes Mal zu den Kindern, die am wärmenden Feuer lagen. Die Babys lächelten ihn neugierig und mit strahlenden Augen an. Sie waren in Sicherheit. Der Leutnant ging zur Tür und seufzte tief. Nach den Minuten der Ruhe kehrten nun die bleierne Müdigkeit und der rasende Schmerz im Bein mit voller Wucht zurück. Er hatte seine Kräfte bis zum letzten Atemzug verbraucht, um die Babys hierherzubringen, und nun zweifelte er, ob er in der Lage sein würde, sich dem Unvermeidlichen zu stellen. Draußen peitschte nach wie vor der Regen durch die Sträucher. Von dem Verfolger und seinen gedungenen Mördern war nichts zu sehen.
    »Michael …«, sagte Aryami hinter ihm.
    Der Mann blieb stehen, ohne sich umzudrehen.
    »Sie wusste es«, log Aryami. »Sie hat es immer gewusst, und ich bin sicher, dass sie deine Gefühle in gewisser Weise erwiderte. Es war meine Schuld. Trag es ihr nicht nach.«
    Peake nickte schweigend und schloss dann die Tür hinter sich. Er blieb einige Sekunden im Regen stehen, dann ging er, innerlich ruhig, seinen Verfolgern entgegen. Er ging auf demselben Weg zurück bis zu der Stelle, wo er aus dem verlassenen Geschäft gekommen war, und verschwand erneut in den Schatten des alten Hauses, um nach einem Versteck zu suchen und abzuwarten.
    Während er sich in der Dunkelheit verbarg, wurden die Erschöpfung und der Schmerz allmählich zu einem berauschenden Gefühl von Einsamkeit und Frieden. Auf seinen Lippen erschien ein Lächeln. Er hatte keinen Grund und keine Hoffnung mehr, weiterzuleben.
     
    Die langen, spitzen Finger in dem schwarzen Handschuh strichen über die blutbefleckte Spitze des Nagels, der unter dem zersplitterten Holz am Kellereingang des Geschäfts lag. Während die Männer schweigend warteten, führte die hagere Gestalt, die ihr Gesicht unter einer schwarzen Kapuze verbarg, langsam den Zeigefinger an die Lippen und leckte genüsslich den zähflüssigen, dunklen Blutstropfen ab, als sei es ein Tropfen Honig. Dann wandte der Verhüllte sich zu den Männern um, die er vor Stunden für ein paar Münzen und die Aussicht auf eine weitere Zahlung nach Vollendung des Auftrags angeworben hatte, und deutete ins Innere des Gebäudes.
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