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Mitternachtspalast

Mitternachtspalast

Titel: Mitternachtspalast
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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schob langsam seinen Kopf unter der Treppe hervor. Nach Süden glich die verlassene Chowringhee Road einer gespenstischen Bühne, die auf den Beginn der Vorstellung wartete. Der Leutnant kniff angestrengt die Augen zusammen und erkannte die ferne Lichterkette am anderen Ufer des Hooghly River. Hastige Schritte auf dem regennassen Pflaster ließen ihn zusammenzucken, und er zog sich wieder in die Dunkelheit zurück.
    Drei Gestalten tauchten aus der Finsternis des Maidan auf, einem blassen Abklatsch des Hyde Parks, den jemand mitten in den tropischen Dschungel verpflanzt hatte. Messer blitzten in der Dunkelheit auf wie Zungen aus glühendem Silber. Peake nahm rasch die Kinder auf den Arm und atmete tief durch. Er wusste, wenn er jetzt die Flucht ergriff, würden die Männer in Sekundenschnelle über ihn herfallen wie Bluthunde.
    Der Leutnant presste sich reglos an die Wand des Ladens und beobachtete seine drei Verfolger, die kurz stehen geblieben waren, um seine Fährte wieder aufzunehmen. Die drei Mörder wechselten ein paar unverständliche Worte, dann wies einer von ihnen die anderen beiden an, sich zu trennen. Peake erschrak, als er sah, wie derjenige, der den Befehl gegeben hatte, genau auf die Treppe zukam, unter der er sich versteckte. Für einen kurzen Moment befürchtete der Leutnant, der Geruch der Angst könne ihn zu seinem Versteck führen.
    Verzweifelt glitt sein Blick über die Mauer hinter der Treppe, auf der Suche nach einer Öffnung, durch die er fliehen konnte. Er kniete neben der Nische nieder, wo er kurz zuvor die Kinder abgelegt hatte, und versuchte die losen, von Feuchtigkeit zerfressenen Bretter zu lockern. Das morsche Holz gab ohne weiteres nach, und Peake spürte, wie ein ekelerregender Luftzug aus dem Keller des verfallenen Gebäudes drang. Er blickte sich um und sah, dass der Mörder keine zwanzig Meter mehr vom Fuß der Treppe entfernt war. Das Messer blitzte in seinen Händen.
    Er wickelte die Kinder in seinen Umhang, um sie zu schützen, und kroch ins Innere des Ladens. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz sein rechtes Bein oberhalb des Knies. Peake tastete mit zitternden Händen danach, und seine Finger berührten den rostigen Nagel, der sich schmerzhaft in sein Fleisch bohrte. Einen verzweifelten Schrei unterdrückend, packte Peake das Ende des kalten Metallstifts, zog ihn mit einem Ruck heraus und spürte, wie die Haut aufriss und warmes Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Vor Schmerz und Übelkeit wurde ihm für einige Sekunden schwarz vor Augen. Schwer atmend nahm er die Kinder und richtete sich mühsam auf. Vor ihm lag ein gespenstischer Raum mit Hunderten leerer, mehrstöckiger Regale, die ein seltsames Muster bildeten, das sich in der Dunkelheit verlor. Ohne einen Moment zu zögern, lief er ans andere Ende des Ladens, dessen tödlich verwundetes Gebälk im Sturm ächzte.
     
    Als Peake wieder ins Freie kam, nachdem er endlose Meter im Inneren des baufälligen Gebäudes zurückgelegt hatte, stellte er fest, dass er sich nur knapp hundert Meter vom Tiretta Basar entfernt befand, einem der vielen Märkte im Nordteil der Stadt. Er war froh über sein Glück und machte sich durch das Gewirr enger, dunkler Gassen, die das Herz dieses unübersichtlichen Viertels von Kalkutta bildeten, auf den Weg zu Aryami Bosés Haus.
    Er brauchte zehn Minuten bis zum Anwesen des letzten Mitglieds der Familie Bosé. Aryami lebte allein in einer alten Villa im bengalischen Stil. Das Haus lag hinter dichtem Grün verborgen, das seit Jahren ungehindert im Patio wucherte und dem Gebäude einen verlassenen, verwunschenen Anstrich gab. Doch kein Bewohner von Nord-Kalkutta, auch als die
Schwarze Stadt
bekannt, hätte es gewagt, über die Schwelle dieses Patios zu treten und sich in Aryami Bosés Reich zu begeben. Sie war ebenso geschätzt und geachtet wie gefürchtet. Es gab keine Menschenseele in den Straßen von Nord-Kalkutta, die nicht irgendwann in ihrem Leben von ihr und ihrer Familie gehört hätte. Für die Leute in der Gegend war sie so etwas wie ein Geist, mächtig und unsichtbar.
    Peake rannte zu dem schwarzen, schmiedeeisernen Portal, von dem aus ein Weg durch die Büsche im Patio führte, und hastete die Marmortreppe zur Eingangstür hinauf. Die beiden Kinder auf dem Arm, hämmerte er mit der Faust gegen die Tür, in der Hoffnung, dass sein Klopfen nicht im tosenden Sturm unterging.
    Der Leutnant klopfte minutenlang, den Blick unverwandt auf die verwaisten Straßen hinter sich
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