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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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Magierkolonie spuckte, gewährte mir das keinen Trost. Eine Frage: Warum solcher Schmerz über ein bloßes Behältnis von Säften? Meine Antwort lautet, dass man einen Spucknapf niemals unterschätzen sollte. Als er elegant im Salon der Rani von Cooch Naheen prangte, gestattete er Intellektuellen, sich in den Kunstformen der Massen zu üben; als er in einem Keller glänzte, verwandelte er Nadir Khans Unterwelt in ein zweites Tadsch Mahal; als er in einem alten Blechkoffer Staub ansammelte, war er doch meine ganze Geschichte hindurch vorhanden und assimilierte insgeheim Vorfälle in Wäschetruhen, Geistererscheinungen, Einfrieren-Auftauen, Dränage, Exil; als er vom Himmel fiel wie eine Scheibe vom Mond, bewirkte er eine Verwandlung: O Talisman-Spucknapf! O schönes verlorenes Behältnis von Erinnerungen und Speichelsaft! Welch fühlender Mensch würde meinen
sehnsüchtigen Schmerz über seinen Verlust nicht nachempfinden können?
    ... Neben mir saß hinten in einem gerammelt vollen Bus Picture Singh mit Schlangenkörben, die sich unschuldig auf seinem Schoß stapelten. Als wir durch die Stadt rumpelten und ratterten, die von den auferstandenen Geistern früherer mythologischer Delhis erfüllt war, umgab den Bezauberndsten Mann der Welt eine Aura blasser Verzagtheit, als sei eine Schlacht in einer fernen Dunkelkammer schon vorüber ... bis zu meiner Rückkehr hatte niemand begriffen, dass Picturejis wirkliche und unausgesprochene Angst darin bestand, dass er alt wurde, dass seine Kräfte nachließen, dass er bald in einer Welt, die er nicht verstand, sich verloren vorkommen müsste und zu nichts mehr taugen würde: Wie ich klammerte Picture Singh sich an Baby Aadam, als sei das Kind eine Taschenlampe in einem langen dunklen Tunnel. «Ein gutes Kind, Hauptmann», sagte er zu mir, «ein würdevolles Kind: Seine Ohren fallen kaum auf.»
    An jenem Tag war mein Sohn jedoch nicht bei uns.
    Auf dem Connaught Place überfielen mich die Gerüche Neu-Delhis – der keksige Duft der J.-B.-Mangharam-Werbung, die traurige Kreidigkeit von abbröckelndem Verputz, die tragische Fährte der Autorikschafahrer, denen wegen der steigenden Benzinkosten nur noch Hunger und Fatalismus blieben, und der Geruch nach grünem Gras, der aus dem kreisrunden Park in der Mitte des tosenden Verkehrs aufstieg und sich mit dem Duft von Trickbetrügern mischte, die Ausländer überredeten, unter schattigen Torbogen Schwarzgeld zu tauschen. Aus dem India Coffee House, unter dessen Markisen das endlose Blabla von Klatsch zu hören war, kam das weniger angenehme Aroma neuer Geschichten, die gerade erst begannen: Intrigen Ehen Streitigkeiten, deren Gerüche sich alle mit denen von Tee und Chili-Pakoras vermischten. Was ich auf dem Connaught Place roch: die Nähe einer narbengesichtigen Bettlerin, die einst Sundari-die-allzu-Schöne gewesen war, und Gedächtnisverlust und Hinwendung-zur-Zukunft und Nichts-verändert-sichwirklich ...
ich wandte mich von diesen Geruchsmitteilungen ab und konzentrierte mich auf die alles durchdringenden und simpleren Gerüche von (menschlichem) Urin und tierischem Dung.
    Unter der Kolonnade von Block F auf dem Connaught Place hatte direkt neben einem Bücherstand ein Paanhändler seine kleine Nische. Er saß wie eine kleinere Gottheit des Platzes mit gekreuzten Beinen hinter einer grünen Glastheke: Ich nehme ihn in diese letzten Seiten auf, weil er, wenn er auch das Aroma von Armut absonderte, in Wirklichkeit ein vermögender Mann war, Besitzer eines Lincoln Continental, den er außer Sichtweite auf dem Connaught Circus parkte und mit dem Geld bezahlt hatte, das er mit dem Verkauf von geschmuggelten ausländischen Zigaretten und Transistorradios verdiente; jedes Jahr machte er zwei Wochen Ferien im Gefängnis, die restliche Zeit bezahlte er mehreren Polizisten ein ansehnliches Gehalt. Im Gefängnis wurde er wie ein König behandelt, hinter seiner grünen Glastheke aber sah er harmlos, gewöhnlich aus, sodass man nicht ohne weiteres erraten konnte (wenn man nicht eine so sensible Nase besaß wie Saleem), dass dies ein Mann war, der alles über alles wusste, ein Mann, der dank eines unendlichen Netzwerks von Kontakten in viele Geheimnisse eingeweiht war ... außerdem erinnerte er mich – und gar nicht unangenehm – an einen ähnlichen Charakter, den ich zur Zeit meiner Lambretta-Fahrten in Karatschi gekannt hatte. Ich war so damit beschäftigt, die vertrauten Düfte der Sehnsucht einzusaugen, dass ich aufschreckte, als er
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