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Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Mitternachtskinder: Roman (German Edition)

Titel: Mitternachtskinder: Roman (German Edition)
Autoren: Salman Rushdie
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die Maßen. Während die unendliche Fläche der Indus-Ganges-Ebene sich vor dem Fenster ausbreitete und zu unserer Qual den heißen Irrsinn des nachmittäglichen Loo-Windes hereinschickte, hielt der geschorene
Amerikaner den Reisenden im Abteil Vorträge über die Feinheiten des Hinduismus und begann, ihnen Mantras beizubringen, wobei er eine Bettelschale aus Walnussholz ausstreckte. Picture Singh war blind für dieses bemerkenswerte Schauspiel und auch taub für das Abrakadabra der Räder. «Es hat keinen Zweck, Hauptmann», vertraute er mir düster an. «Dieser Kerl in Bombay ist bestimmt jung und stark, und ich bin dazu verdammt, von jetzt an nur noch der zweitbezauberndste Mann zu sein.» Bis wir den Bahnhof von Kotah erreichten, hatten die Gerüche des Missgeschicks, die der Pfauenfederfächer ausströmte, von Picture Singh vollkommen Besitz ergriffen, hatten ihm so erschreckend zugesetzt, dass er, obwohl jeder im Abteil so weit weg vom Bahnsteig wie möglich ausstieg, um gegen den Zug zu pinkeln, dieses Bedürfnis augenscheinlich nicht verspürte. Als wir zur Ratlam Junction kamen, war er, während meine Erregung wuchs, in eine Trance verfallen, die nicht Schlaf, sondern die zunehmende Lähmung durch Pessimismus war. «Wenn das so weitergeht», dachte ich, «wird er noch nicht einmal in der Lage sein, seinen Rivalen herauszufordern.» In Surat, dem ehemaligen John Company Depot, erkannte ich, dass ich bald etwas tun müsste, denn Abrakadabra brachte uns mit jeder Minute dem Hauptbahnhof von Bombay näher, und so nahm ich schließlich Picture Singhs alte Holzflöte und spielte darauf so schrecklich laienhaft, dass alle Schlangen sich vor Schmerz wanden, worauf der junge Amerikaner in Schweigen versteinerte. Ich produzierte einen so höllischen Lärm, dass niemand bemerkte, wie wir an Bassein Road, Kurla, Mahim vorbeifuhren, und überwand auf diese Weise das Miasma der Pfauenfedern; endlich rappelte Picture Singh sich auf, schüttelte mit einem schwachen Grinsen seine Verzagtheit ab und sagte: «Hör lieber auf, Hauptmann, und lass mich das Ding spielen, sonst sterben noch ein paar Leute vor Schmerz.»
    Die Schlangen beruhigten sich in ihren Körben, und dann hörten die Räder mit ihrem Gesang auf, und wir waren da.
    Bombay! Ich drückte Aadam heftig an mich und konnte nicht
anders, ich musste einen uralten Schrei ausstoßen: «Back-to-Bom!», jubelte ich zur Verwirrung des jungen Amerikaners, der dieses Mantra noch nie gehört hatte, und noch einmal und noch einmal und noch einmal: «Wieder da! Back-to-Bom!»
    Mit dem Bus fuhren wir die Bellasis Road hinunter auf den Tardeo-Kreisverkehr zu, vorbei an Parsen mit tief in den Höhlen liegenden Augen, vorbei an Fahrradreparaturwerkstätten und iranischen Cafés; und dann war der Hornby Vellard zu unserer Rechten – wo Spaziergänger zusahen, wie Sherri die Promenadenmischung ihr Gedärm verstreute! Wo immer noch Pappbilder von Ringern über den Eingängen zum Vallabhbhai-Patel-Stadion aufragten! –, und wir ratterten und rumpelten an Verkehrspolizisten mit Sonnenschirmen vorbei, am Mahalaxmi-Tempel vorbei – und dann kam die Warden Road! Das Breach-Candy-Schwimmbad! Und da, sehen Sie, die Geschäfte – aber die Namen hatten sich geändert: wo war das Paradies des Lesers mit seinen Stapeln von Superman-Comics? Wo die Tip-Top-Reinigung und Bombelli mit seiner «Ein-Meter-Schokolade»? Und mein Gott, sehen Sie, oben auf einem zweigeschossigen Hügelchen, wo einst die Paläste William Methwolds standen, bekränzt von Bougainvillea, und stolz aufs Meer hinausblickten ... sehen Sie sich das an, ein großes rosa Monster von Gebäude, der rosenfarbene Wolkenkratzerobelisk der Narlikar-Frauen, der sich über der Zirkusmanege der Kindheit erhebt und sie in den Schatten stellt ... ja, es war mein Bombay, aber auch wieder nicht meins, denn wir kamen zu Kemp’s Corner, bloß um festzustellen, dass die Reklametafeln mit dem kleinen Radscha der Air India und dem Kolynos-Kind weg waren, für immer verschwunden, und Thomas Kemp und Co. selbst hatte sich in Luft aufgelöst ... Hochstraßen kreuzten sich, wo früher einmal Arzneimittel ausgegeben wurden und ein Kobold in einer Chlorophyllkappe auf den Verkehr hinunterstrahlte. Elegisch murmelte ich vor mich hin: «Hält Zähne weiß, hält Zähne rein! Glanz kommt mit Kolynos ganz von allein!» Doch trotz meiner Zauberformel kehrte die Vergangenheit nicht wieder;
wir ratterten die Gibbs Road hinunter und stiegen in der
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