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Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)

Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)

Titel: Mitten in der großen Krise. Ein »New Deal« für Europa (German Edition)
Autoren: Stephan Schulmeister
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sogar kontraproduktiv.
    So sollten die niedrigen Zinsen die Kreditvergabe an Unternehmen und damit ihre Investitionstätigkeit stimulieren. Tatsächlich haben aber viele Banken das billige Geld bei der Notenbank aufgenommen, um noch exzessiver zu spekulieren oder durch Kauf von Staatspapieren eine satte Zinsspanne zu lukrieren. Auch die erheblichen Steuersenkungen konnten den Konsum nicht merklich stimulieren: Nicht zuletzt aus Verunsicherung über die künftigen Leistungen des Sozialstaats (insbesondere für Pensionen) haben die Haushalte die zusätzlichen Nettoeinkommen zu einem erheblichen Teil gespart.
    Insgesamt waren die expansiven Impulse der Krisenbekämpfung im Vergleich zu der dafür in Kauf genommenen Budgetverschlechterung gering. Hauptgrund: Die systemischen Ursachen der großen Krise blieben weitgehend ausgeblendet. 3

3. Die Ausblendung der systemischen Ursachen der großen Krise
     
    Entsprechend der symptomorientierten Sichtweise der neoliberalen Eliten konzentriert sich die gängige Diagnose der großen Krise auf jenen Bereich, wo sie in Erscheinung trat, also auf die Banken, ihre fahrlässige Kreditvergabe, die Profitgier ihrer Manager, die Verantwortungslosigkeit der Rating-Agenturen sowie auf die Förderung dieses (Fehl-)Verhaltens durch die viel zu expansive Zinspolitik von US -Notenbankchef Greenspan und generell durch die unzureichende staatliche Regulierung. Betont wird also in erster Linie menschliches Versagen im Finanzsektor und in der Politik. Folgerichtig bleiben all jene Entwicklungen unbeachtet, die auf ein Versagen des finanzkapitalistischen Gesamtsystems hindeuten:
Der Boom der Aktienkurse und Rohstoffpreise, der ein enormes Absturzpotenzial aufbaute sowie die Aufwertung des Euro bis Mitte 2008 und die nachfolgende Abwertung (Abb. 2 bis 6).
Die dramatische Zunahme kurzfristiger Spekulation mit Finanzderivaten, insbesondere die geradezu groteske Expansion des Börsehandels mit solchen »Wettscheinen« (Abb. 8, S. 56–57).
Die Verwandlung der (großen) Banken – exemplarisch die Deutsche Bank – von Dienern der Realwirtschaft zu »Finanzalchemisten«.
Die Illusion des »Lassen Sie Ihr Geld arbeiten« und die Schäden, die durch diese Losung angerichtet wurden.
Die drei Jahrzehnte anhaltende Umverteilung von Einkommen und Vermögen – in funktioneller Sicht von der Arbeit zum Kapital, und innerhalb des Kapitals vom Real- zum Finanzkapital, in personeller Sicht von unten nach oben. 4 )
    Der wichtigste Grund, warum diese Krisenkomponenten nicht wahrgenommen werden, liegt in der Vermeidung kognitiver Dissonanzen durch die Eliten. Würden sie sich ihnen aussetzen, so müssten etwa Wirtschaftswissenschaftler folgende Hypothese prüfen: Märkte, die dem optimalen Markt der Theorie am nächsten kommen, nämlich die Börsen für Finanzderivate, produzieren systematisch »manisch-depressive« Schwankungen der Wechselkurse, Zinssätze, Aktienkurse und Rohstoffpreise, also falsche Preissignale (Abb. 1 bis 7). Dann aber würde das gesamte Weltbild ins Wanken geraten, das man in den letzten drei Jahrzehnten mühevoll restauriert hatte.
    Um sich dieser kognitiven Dissonanz auszusetzen, ist die Krise noch nicht schwer genug. Und selbst wenn sie sich vertieft: Der Problemdruck, der ein Nachdenken befördert, tritt bei anderen auf, nicht bei jenen, deren Nachdenken eine radikale Überwindung des neoliberalen Weltbilds ermöglichen könnte. Also suchen die Mainstream-Ökonomen nach Krisenursachen, die dem Staat zugeschoben werden können: Er sei schuld an der Krise, weil er den Finanzsektor nicht wirksam reguliert habe, oder weil er in Gestalt des Notenbankchefs Greenspan das Geld zu billig gemacht habe (stellvertretend für viele Artikel mit dieser Tendenz: Taylor, 2009).
    Das Haupthindernis einer raschen Überwindung der Krise liegt also in den Köpfen der »Experten«: Je stärker die »Beharrungstendenz ihres Meinungssystems« und je fester ihr Glaube an die kunstvoll ausgedachte »Harmonie der Täuschungen«, desto länger wird die Krise dauern (diese Begriffe habe ich dem großartigen Essay von Ludwik Fleck, 1935, entnommen). Denn die Politik kann sich nur wenig von jenem Zeitgeist lösen, den Wissenschaft und Medien vertreiben.
    Im Folgenden werde ich mich auf die am meisten ausgeblendeten Krisenursachen konzentrieren, die »manisch-depressiven« Schwankungen von Aktienkursen, Rohstoffpreisen und Wechselkursen. Es sind dies die wichtigsten Preise, da sie in Raum und Zeit zwischen der
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