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Mit verdeckten Karten

Mit verdeckten Karten

Titel: Mit verdeckten Karten
Autoren: Alexandra Marinina
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Eingebung. Bis jetzt war Nastja nichts von Bedeutung eingefallen, zwischen den Opfern schien keinerlei Verbindung zu bestehen, sie hatten einander nicht einmal gekannt. Um herauszufinden, ob es möglicherweise doch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab, waren zeitaufwendige, minutiöse Recherchen notwendig, man mußte herausfinden, wer ihre Schulfreunde und Kommilitonen waren, ihre Kollegen bei der Armee, ihre Haus- und Hofnachbarn, die Wohnorte mußten zurückverfolgt werden bis in die Kindheit. Das einzige, was die Opfer verband, war die Waffe, mit der sie getötet wurden, jedenfalls drei von ihnen. Über das vierte Opfer wußte man noch nichts, aber Nastja war sicher, daß es zur selben »Partie« gehörte. Da Tschernyschew es so eilig gehabt hatte, sie über den Mord zu informieren, war er ganz offensichtlich derselben Meinung.
    Die morgendliche Einsatzbesprechung war an diesem Tag schnell beendet, der Chef hörte sich die Berichte der Mitarbeiter über die laufenden Ermittlungen an, zum Abschluß informierte er über das, was die Kollegen unter sich »Neuzugänge« nannten.
    »Heute morgen wurde im Staatlichen Zentrum für Internationale Beziehungen die Leiche eines Angestellten der Protokollabteilung entdeckt. Korotkow ist zum Tatort gefahren, er hatte gerade Dienst. Sollten wir dort noch gebraucht werden, wird der Fall übernommen von . . . von . . .«
    Gordejew nahm seine Brille ab, steckte den Bügel in den Mund und musterte seine vor ihm sitzenden Untergebenen mit einem versonnenen Blick. Die grelle Märzsonne führte sich ungehörig auf, indem sie Lichtkringel auf seiner Glatze spielen ließ und offenbar erpicht darauf war, ihm in die Augen zu fahren. Der Oberst kniff unwirsch die Augen zusammen und rutschte fortwährend auf seinem Stuhl hin und her, um dem aufsässigen Lichtstrahl auszuweichen, der ihn blenden wollte.
    »Natürlich kommt hier keiner auf die Idee, sich zu erheben und den Vorhang zuzuziehen«, knurrte er und stieß sich abrupt von der Tischkante ab, so daß sein fahrbarer Bürostuhl ihn an eine schattige Stelle rollte.
    »Lesnikow, du wirst den Fall übernehmen, falls es einer ist. Und natürlich Anastasija, wie immer.«
    Igor Lesnikow wandte sich zu Nastja um und zwinkerte ihr mitfühlend zu. Zwar hatte jeder Mitarbeiter der Abteilung für schwere Gewaltverbrechen ein gutes Dutzend Mordfälle und Vergewaltigungen zu bearbeiten, aber Nastja war das Mädchen für alles, jeder einzelne Fall in der Abteilung war auch der ihre. Gordejew hatte sie als Auswerterin eingesetzt, und sie hätte selbst im Schlaf alle Fälle von Mord und Vergewaltigung aufzählen können, die sich in den letzten acht bis zehn Jahren in Moskau ereignet hatten. Sie wußte genau, wie viele es waren, wie man sie im Stadtgebiet lokalisiert hatte, wie sich die Verbrechensrate in Abhängigkeit von Jahreszeiten, Wochentagen, Feiertagen und sogar Zahltagen veränderte. Welche Motive den Verbrechen zugrunde lagen und mit welchen Mitteln sie ausgeführt wurden. Wie viele von ihnen man aufgeklärt hatte und wie viele nicht, welche typischen Fehler und Versäumnisse sich in der Ermittlungsarbeit wiederholten, welche Beweise bei Gericht nicht anerkannt wurden, wegen welcher Versehen und Fahrlässigkeiten Fälle von den Richtern an die Abteilung zurückgegeben wurden, damit genauer ermittelt werden sollte. Welche Tricks die Täter anwandten, um die Spuren ihres Verbrechens zu beseitigen, und mit welchem Erfolg die Kripo die Methoden ihrer Ermittlungsarbeit verbesserte und vervollkommnete. Es gab nichts, was Nastja Kamenskaja über die Mordfälle von Moskau nicht wußte. Und außerdem half sie den operativen Mitarbeitern ihrer Abteilung bei der Aufklärung jedes Verbrechens. Ihr Denken war nicht eingeschränkt von dem magischen Begriff der Regel, deshalb war es ihr möglich, auf die unwahrscheinlichsten Kombinationen zu kommen. Es existiert nur eine einzige Regel, pflegte sie zu sagen, diese Regel ist das Naturgesetz. Wenn sich ein Ziegel vom Dach löst, so muß er nach dem Prinzip der Schwerkraft nach unten fallen. Und wenn der Ziegel nicht nach unten fällt, werde ich nicht sagen, daß das unmöglich ist, sondern nach dem Grund dafür suchen, warum das so ist. Vielleicht ist er an einem unsichtbaren Faden befestigt. Oder man hat ihn irgendwie mit Metall verbunden und hält ihn gewaltsam in einem Magnetfeld fest. Wenn man ihr sagte, daß ein Mann seine Frau umgebracht hatte, daß er am Tatort, neben dem leblosen Körper, gefaßt wurde
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