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Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht

Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht

Titel: Mit Leerer Bluse Spricht Man Nicht
Autoren: Katinka Buddenkotte
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derWeihnachtsklassiker schlechthin. Wir lernten, ihn zu jeder Jahreszeit zu schätzen.
    Zu den ersten vier Vorstellungen luden wir die Nachbarskinder noch ein. Als sich Aschenbrödel jedoch zum fünften Mal während der Sommerferien auf ihren Schimmel schwang, um, untermalt von einlullendem Harfenspiel, zum Ball des Königs zu reiten, quengelte ein sonst ziemlich großschnäuziger Nachbarsjunge matt: »Ich kann nicht mehr.«
    Der Glückliche! Er hatte eine Wahl. Er konnte gehen und draußen spielen.
    So einfach kamen meine Schwester und ich nicht davon. Denn wenn Vidi erst einmal mit »Drei Nüsse« angefangen hatte, musste er die Sache auch zu Ende bringen. Sonst bockte er, spuckte wild mit Schrauben und war sogar in der Lage, das Fernsehgerät zu manipulieren. Wenn er nicht alle zwei Tage seinen Film reingedrückt bekam, wurde er ebenfalls unleidlich und brummte selbst im Stand-by-Modus bedrohlich wie ein Grizzly in Gefangenschaft. So musste der Film immer bis zum Ende angesehen werden. Keinesfalls war es uns dabei erlaubt, ihn bei ausgeschaltetem Ton zu ignorieren. Auf solche Spielchen reagierte Vidi empfindlich und rächte sich furchtbar. Dann verweigerte er die Eject-Funktion, rückte seinen Schatz nicht mehr heraus und donnerte selbstständig zu nachtschlafender Zeit los, wobei er uns gerne mit seiner Lieblingsszene folterte, die er im Repeat-Modus beherrschte. Wenig- oder Weihnachtsseher dieses Filmes werden diese scheinbar unbedeutende Szene vielleicht nicht direkt vor Augen haben, aber Vidiliebte die Stelle, an der Aschenbrödel einer streunenden Katze eine Schale Milch kredenzt und das gierige Schlucken der Mieze mit den denkwürdigen Worten begleitet: »Jaaa, rein damit, reicht nur nicht.«
    Wenn diese Worte, so sanft sie auch ausgesprochen werden, in einer irrsinnigen Lautstärke nachts um zwei aus einer Mietwohnung in einer sonst respektablen Wohngegend dröhnen, hat man am nächsten Tag plötzlich noch ganz andere Probleme zu meistern als die Verhaltensstörungen eines Videogerätes in der Trotzphase.
    Meine Mutter war kurz davor, Vidis Leiden ein Ende zu bereiten, ihn zu entkabeln, die Schläuche zu kappen.
    Meine Schwester und ich weinten. Wir umklammerten den grauen Kasten, hielten ihn eng umschlungen, und meine Schwester ratterte die übliche Litanei der leeren Vorschulkinderversprechungen herunter: »Ich kümmere mich auch mehr um ihn, ich füttere ihn jeden Tag und gehe auch dreimal am Tag mit ihm raus, ich will auch gar kein Taschengeld mehr haben   …!«
    Doch ihr irrsinniges Geschwafel wurde von meiner Mutter rigoros unterbrochen: »Ja, klar, und wer macht seinen Stall wieder sauber? Das bleibt doch wieder an mir hängen!«
    Dann verfiel sie in hysterisches Lachen. Mein Vater unterband es mit ruhiger Stimme und der sachlichen Erklärung: »Leute, das ist ein Videorekorder und kein Tier. Wir können ihn nicht einfach einschläfern. Wir müssen herausfinden, wo sein Problem liegt. Wir müssen ihm helfen.«
    Langsam ließen meine Schwester und ich von Vidiab. Sachte, ganz vorsichtig stellten wir ihn zurück unter den Fernseher. Mein Vater überprüfte die Kabel. Vidi brummte wohlwollend. Es war ihm nichts passiert.
    Schweigend und voller Sorge betrachtete meine Familie ihren Jüngsten. Angespornt durch die besinnliche Stimmung entsann ich mich, dass ich tags zuvor wieder heimlich im integrativen Kindergarten nebenan gelauscht hatte, und wiederholte die Worte, die ich von der Betreuerin aufgeschnappt hatte: »Am besten hilft man, wenn man erst einmal ganz genau zuhört.«
    Meine Mutter nickte gütig. Meine Schwester, die mit Vidis zarter Konstitution immer am sanftesten umzugehen vermochte, drückte die Play-Taste. So sahen wir uns am 26.   Juli 1984 zum achtzehnten Mal in diesem Sommer »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« an. Und wir hörten sehr aufmerksam zu.
    Natürlich hatte selbst mein kleiner Bruder, damals noch ein Säugling, intensiv gespürt, dass es sich bei »Aschenbrödel« um mehr als einen reinen Unterhaltungsfilm für Kinder handelte. Er war eher als ein Gleichnis zu verstehen oder, besser gesagt: als eine Weltanschauung. Der ganze Film ist so, wie eine gute Religion im Grunde sein sollte: Jeder kann sich das Passende aus ihr heraussuchen, und es kommen jede Menge Tiere darin vor. Meine Schwester, die den Film bis heute von Anfang bis Ende auswendig mitsprechen kann (inklusive des Fanfareneinsatzes und der Eulengeräusche), entwickelte eine sehr direkte Leitlinie daraus:
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