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Mit dir an meiner Seite

Mit dir an meiner Seite

Titel: Mit dir an meiner Seite
Autoren: Nicholas Sparks
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Gesicht war völlig eingesunken, seine Haut fahl. Er atmete flach und schnell, wie ein kleines Kind. Ronnie schloss die Augen. Sie wollte nicht hier sein. Überall wollte sie sein, nur nicht hier.
    »Noch nicht, Daddy«, flüsterte sie. »Halte noch ein bisschen durch, okay?«
    Der Himmel hinter dem Krankenhausfenster hing voller grauer Wolken. Die Bäume hatten keine Blätter mehr, und die starren, kahlen Aste erinnerten an Knochen. Die Luft war kalt und still. Man ahnte, dass bald ein Unwetter aufziehen würde.
    Der braune Umschlag lag auf dem Nachttisch. Ja, sie hatte ihrem Vater versprochen, seine Verfügung dem Arzt zu übergeben, aber sie hatte es noch nicht übers Herz gebracht. Erst wollte sie sicher sein, dass er nicht mehr aufwachte. Dass sie keine Möglichkeit mehr hatte, sich von ihm zu verabschieden. Dass sie wirklich nichts mehr für ihn tun konnte.
    Sie betete um ein Wunder. Nur ein ganz kleines. Und als hätte Gott ihre Bitte erhört, geschah zwanzig Minuten später etwas Unerwartetes.
    Fast den ganzen Vormittag hatte sie an seinem Bett verbracht. Mit der Zeit gewöhnte sie sich so sehr an das Geräusch seiner Atemzüge und an das gleichmäßige Piepsen des Herzmonitors, dass die geringste Veränderung ihr wie ein Alarmzeichen vorkam. Als sie aufblickte, sah sie, dass sein Arm zuckte und die Augenlider flatterten. Er blinzelte in das Neonlicht, und Ronnie ergriff instinktiv seine Hand.
    »Dad?« Eine blinde Hoffnung überkam sie - vielleicht setzte er sich auf.
    Aber das tat er nicht. Er schien sie nicht zu hören. Mit größter Anstrengung drehte er den Kopf, um sie anzuschauen, und sie sah eine Dunkelheit in seinen Augen, die sie noch nie wahrgenommen hatte. Doch dann blinzelte er, und sie hörte ihn seufzen.
    »Hallo, Schätzchen«, flüsterte er heiser.
    Weil er Wasser in der Lunge hatte, klang er fast wie ein Ertrinkender. Ronnie zwang sich zu einem Lächeln. »Wie fühlst du dich?«
    »Nicht besonders gut.« Er schwieg, als müsste er Kräfte sammeln. »Wo bin ich?«
    »Im Krankenhaus. Du wurdest heute Morgen eingeliefert. Ich weiß, du hast diese Patientenverfügung, aber bisher ...«
    Als sich seine Lider senkten, fürchtete sie schon, seine Augen könnten für immer geschlossen bleiben. Doch er öffnete sie wieder.
    »Ist schon okay«, murmelte er und klang so nachsichtig, dass ihr Herz zuckte. »Ich verstehe das.«
    »Bitte, sei mir nicht böse.«
    »Ich bin dir nicht böse.«
    Sie küsste ihn auf die Wange und schlang vorsichtig die Arme um seinen ausgemergelten Körper. Da spürte sie, wie er ihr die Hand auf den Rücken legte.
    »Geht es dir ... gut?«, fragte er.
    »Nein.« Tränen stiegen ihr in die Augen. »Es geht mir nicht gut.«
    »Ach, das tut mir leid.« Seine Stimme war kaum noch hörbar.
    »Bitte, sag das nicht, Dad. Ich bin diejenige, der so vieles leidtun muss. Wieso habe ich so lange nicht mit dir gesprochen? Das hätte ich nicht tun dürfen. Ich würde alles darum geben, wenn ich es rückgängig machen könnte.«
    Er lächelte matt. »Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, wie schön du bist?«
    »Ja, das hast du mir schon mal gesagt«, erwiderte sie schniefend.
    »Diesmal meine ich es ganz ernst.«
    Sie lächelte unter Tränen. »Danke«, stieß sie hervor und küsste zärtlich seine Hand.
    »Weißt du noch - als du klein warst, hast du mir stundenlang zugeschaut, wenn ich Klavier spielte.« Auf einmal klang er ganz ernst. »Und eines Tages saßest du am Klavier und hast eine Melodie gespielt, die du von mir gehört hattest. Du warst damals erst vier Jahre alt. Du bist so unglaublich begabt.«
    »Ich kann mich gut daran erinnern.«
    Jetzt ergriff er ihre Hand und hielt sie fest, mit einer Kraft, die Ronnie überraschte. »Ich muss dir noch etwas sagen. Gleichgültig, wie hell dein Stern erstrahlte - mir war die Musik nicht halb so wichtig wie du, meine Tochter ... Ich möchte, dass du das nie vergisst.«
    Ronnie nickte. »Ich glaube dir, Dad. Und ich habe dich auch sehr, sehr lieb.«
    Er atmete tief durch, ohne den Blick von ihr abzuwenden. »Bringst du mich dann nach Hause?«
    Die Worte trafen sie mit einer ungeheuren Wucht. Unausweichlich, mitten ins Herz. Sie schaute auf den Briefumschlag. Ja, sie wusste, was diese Bitte bedeutete und was sie den Ärzten sagen musste. In diesem Augenblick sah sie die Ereignisse der vergangenen fünf Monate ganz deutlich vor sich, Bilder zogen vorüber, eines nach dem anderen, und sie blieben erst stehen, als sie ihren Dad vor sich
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