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Mit der Reife wird man immer juenger

Mit der Reife wird man immer juenger

Titel: Mit der Reife wird man immer juenger
Autoren: Hermann Hesse
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empor, setzten ihre Sohlen ängstlicher und unmutiger auf den Boden als ich, alle waren sie leidender, ärmer, kränker, beklagenswerter als ich, und dies tat mir äußerst wohl und blieb während meiner Badener Kurzeit ein tausendmal wiederkehrender, unerschöpflicher Trost: daß ringsum Leute hinkten, Leute krochen, Leute seufzten, Leute in Krankenstühlen fuhren, welche viel kränker waren als ich, viel weniger Grund zu guter Laune und zur Hoffnung hatten als ich! Da hatte ich denn gleich in der ersten Minute eins der großen Geheimnisse und Zaubermittel aller Kurorte gefunden und schlürfte meine Entdeckung mit wahrer Lust: die Leidensgenossenschaft, das »socios habere malorum«.
    Und als ich nun den Bahnsteig verließ und mich einer sanft gegen die Bäder talwärts fließenden Straße wohlig überließ, da bestätigte und steigerte jeder Schritt die wertvolle Erfahrung: überall schlichen die Kurgäste, saßen müde und etwas krummgezogen auf grüngestrichenen Ruhebänken, hinkten in Gruppen plaudernd vorüber. Eine Frau wurde im Fahrstuhl daher geschoben, müde lächelnd, einehalbwelke Blume in der kränklichen Hand, hinten strotzend und voll Energie die blühende Pflegerin. Ein alter Herr trat aus einem der Läden, in denen die Rheumatiker ihre Ansichtskarten, Aschenbecher und Briefbeschwerer kaufen (sie brauchen deren viele, und ich konnte die Ursache nie ergründen) – und dieser alte Herr, der aus dem Laden trat, brauchte zu jeder Treppenstufe eine Minute und blickte auf die vor ihm liegende Straße, wie ein ermüdeter und unsicher gewordner Mensch auf eine große, ihm gestellte Aufgabe blickt. Ein noch junger Mensch, mit einer graugrünen Militärmütze auf dem borstigen Kopf, arbeitete sich an zwei Stöcken kraftvoll, doch mühsam vorwärts. Ach, schon diese Stöcke, die man hier überall antraf, diese verflucht ernsthaften Krankenstöcke, welche in unten verbreiterte Gummizwingen ausliefen und sich wie Egel oder Saugwarzen an den Asphalt ansogen! Auch ich zwar ging an einem Stokke, einem zierlichen Malakka-Rohrstock, dessen Hilfe mir höchst willkommen war, allein zur Not konnte ich auch ohne Stock gehen, und niemand hatte mich jemals mit einem dieser traurigen Gummistöcke gesehen! Nein, es war klar und mußte jedem in die Augen fallen, wie rasch und schlank ich diese angenehme Straße hinabschlenderte, wie wenig und spielerisch ich den Malakkastock, ein reines Schmuckstück, ein bloßes Ornament, benützte, wie äußerst leicht und harmlos bei mir das Kennzeichen der Ischiatiker, das ängstliche Anziehen der Oberschenkel, ausgebildet, vielmehr nur angedeutet, nur flüchtig skizziert war, überhaupt wie straff und proper ich diesen Weg daherkam, wie jung und gesund ich war, verglichen mit all diesen älteren, ärmeren, kränkeren Brüdern und Schwestern, deren Gebrechen sich so deutlich, so unverhüllbar, so unerbittlich dem Blicke darboten! Ich sog Anerkennung, schlürfte Bejahungaus jedem Schritt, ich fühlte mich schon beinahe gesund, jedenfalls unendlich viel weniger krank als alle diese armen Menschen. Ja, wenn diese Halblahmen und Hinker noch Heilung erhofften, diese Leute mit den Gummistöcken, wenn Baden auch diesen noch helfen konnte, dann mußte ja mein kleines anfängerhaftes Leiden hier schwinden wie Schnee im Föhn, dann mußte der Arzt in mir ein Prachtexemplar, ein höchst dankbares Phänomen, ein kleines Wunder an Heilbarkeit entdecken.
    Nun, ich genoß dies Glück des ersten Tages in vollen Zügen, ich beging Orgien der naiven Selbstbejahung, und ich tat wohl daran. Von den überall auftauchenden Figuren meiner Mitkurgäste, meiner kränkeren Brüder angezogen, vom Anblick jedes Krüppels geschmeichelt, von jedem mir begegnenden Rollstuhl zu frohem Mitleid, zu teilnahmsvoller Selbstzufriedenheit aufgefordert, flanierte ich die Straße hinab, diese so bequeme, so schmeichelhaft angelegte Straße, auf welcher die ankommenden Gäste vom Bahnhof zu den Bädern hinabgerollt werden und die in sanfter Schwingung, mit wohligem, gleichmäßigem Gefälle zu den alten Bädern hinableitet und sich dort unten, gleich einer Flußversickerung, in die Eingänge der Badehotels verliert. Guter Vorsätze und froher Hoffnungen voll näherte ich mich dem »Heiligenhof«, wo ich abzusteigen dachte. Drei, vier Wochen galt es nun hier auszuhalten, täglich zu baden, möglichst viel spazierenzugehen, sich Aufregungen und Sorgen möglichst fern zu halten. Es würde vielleicht zuweilen etwas eintönig sein, es
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