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Mit der Reife wird man immer juenger

Mit der Reife wird man immer juenger

Titel: Mit der Reife wird man immer juenger
Autoren: Hermann Hesse
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Zeitgeistes als das Wesentlichste erscheint? Da ist, um eskurz zu sagen, ein überall spürbares Abnehmen der Ehrfurcht und der Keuschheit. Ich will die alten Zeiten nicht loben. Ich weiß, daß es jederzeit nur eine kleine Minderheit von Guten und Brauchbaren gegeben hat, einen Denker auf tausend Redner, einen Frommen auf tausend Seelenlose, einen Freien auf tausend Philister. Im Grunde war vielleicht nichts Einzelnes früher besser als heute. Aber im Ganzen war, scheint mir, bis vor einigen Jahrzehnten in unserem allgemeinen Lebenshabitus mehr Anstand und Bescheidenheit als heute. Jetzt wird alles mit größerem Getöse und größerer Eigenliebe getan, und die Welt hallt von der Überzeugung wider, sie stehe an der Schwelle der goldenen Zeit, während doch niemand zufrieden ist.
    Ringsum ergeht ein Reden, Predigen und Schreiben von Wissenschaft, von Kultur, von Schönheit, von Persönlichkeit! Aber die Einsicht, daß alle diese wertvollen Dinge nur in Stille und nächtlichem Wachstum gedeihen können, scheint durchaus vergessen zu sein. Jede Wissenschaft und Erkenntnis hat es so eilig, gleich auch Früchte zu tragen und sichtbare Erfolge sehen zu wollen.
    Das Erkennen eines natürlichen Gesetzes, an sich ein so erhabenes und inniges Ereignis, wird mit bedenklicher Hast in die Praxis gezogen – als ob man einen Baum zu schnellerem Wachstum nötigen könnte, wenn man das Gesetz seines Wachsens erkannt hat. Und so ist überall ein Wühlen an den Wurzeln, ein Experimentieren und Goldmachen am Werk, dem ich mißtrauen möchte. Es gibt weder für die Gelehrten noch für die Dichter mehr Dinge, über welche man schweigt. Es wird alles besprochen, bloßgelegt und beleuchtet, und jedes Forschen will gleich ein Wissen sein. Eine neue Erkenntnis, ein neuer Fund eines Forschers steht, noch ehe der Mann damit ganz fertig ist, schon popularisiert und ausgebeutet inden Zeitungen. Und jedes Fündlein eines Anatomen oder Zoologen bringt gleich auch die Geisteswissenschaft ins Zittern! Eine Spezialstatistik beeinflußt Philosophen, eine mikroskopische Entdeckung die Seelenlehren der Theologen. Und gleich ist auch ein Dichter da, der den Roman dazu schreibt. Alle jene alten, heiligen Fragen um die Wurzeln unseres Lebens sind aktuelle Unterhaltungsstoffe, von jedem Hauch der Mode in Wissenschaft und Kunst berührt und beeinflußt. Es scheint kein Schweigen, kein Wartenkönnen, auch keinen Unterschied zwischen Großem und Kleinem mehr zu geben.
    Im sichtbaren täglichen Leben ist es ebenso. Lebensregeln, Gesundheitslehren, Häuser- und Möbelformen und andere Gegenstände längeren Gebrauchs, denen sonst eine gewisse Stabilität anhaftete, wechseln heute so eilig wie Kleidermoden. Jedes Jahr ist auf jedem Gebiet der Gipfel erklommen und das Endgültige geleistet. Im Leben der einzelnen Familien führt das alles zu einem argen Riß zwischen innen und außen, zwischen Schauseite und Innenseite, und damit zu einem Verfall der Sitte und Lebenskunst, dessen Grundzug ein erstaunlicher Mangel an Phantasie ist.
    Beinahe scheint mir das die eigentliche Krankheit der Zeit zu sein. Phantasie ist die Mutter der Zufriedenheit, des Humors, der Lebenskunst. Und Phantasie gedeiht nur auf dem Grunde eines innigen Einverständnisses zwischen dem Menschen und seiner sachlichen Umgebung. Diese Umgebung braucht nicht schön, nicht eigentümlich, nicht reizend zu sein. Wir müssen nur Zeit haben, mit ihr zu verwachsen, und daran fehlt es heute überall. Wer nur nagelneue Kleider trägt, die er sehr häufig wechseln und erneuern muß, dem geht dadurch ein Stücklein Boden für die Phantasie verloren. Er weiß nicht, wie lebendig, lieb, freundlich,drollig, erinnerungsreich und anregend ein alter Hut, eine alte Reithose, ein altes Wams sein kann: Und ebenso ein alter Tisch und Stuhl, ein vertrauter, treuer Schrank, Ofenschirm oder Stiefelknecht. Ferner die Tasse, aus der einer seit Kinderzeiten trank, die großväterliche Kommode, die alte Uhr!
    Gewiß ist es nicht notwendig, immerzu am selben Ort und in denselben Räumen und mit denselben Gegenständen zu leben. Es kann jemand sein Leben lang auf Reisen und heimatlos sein und dennoch die reichste Phantasie haben. Aber auch er wird sicherlich irgendein liebes Stücklein mit sich herumtragen, wovon er sich niemals trennen mag, und sei es nur ein Fingerring, eine Taschenuhr, ein altes Messer oder ein Geldbeutel.
    Nun, ich gerate auf Abwege. Ich wollte sagen, daß die heutige Veränderungslust arm macht und die
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