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Mit 80 000 Fragen um die Welt

Mit 80 000 Fragen um die Welt

Titel: Mit 80 000 Fragen um die Welt
Autoren: Dennis Gastmann
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höre ich ein Grollen. Es kommt aus den Katakomben der Arena und wird lauter. Eisenketten schlagen gegeneinander, und immer wieder prallt von innen etwas Großes gegen das Holztor. Es kratzt, scharrt und tobt, und mein Herz rast, als sich die Tür krachend öffnet. Dahinter steht ein Mann.
    «Man nennt mich El Rubio de San Diego. Aber du kannst mich Alfredo nennen.»
    Ein Mensch hat mir diesen Schrecken eingejagt?
    «Du wirst dich gleich beruhigen. Das machen wir mit jedem Anfänger. Es soll dir zeigen, wie es sich anfühlt, wenn eine halbe Tonne an deine Tür klopft. Die meisten machen sich dabei in die Hose.»
    Alfredo sieht aus wie ein Prinz aus dem Märchen. Er ist groß, und seine langen blonden Haare fallen auf den schneeweißen Kragen, den er unter seinem engen hellblauen Torero-Kostüm trägt. Im Sommer kämpft der Kolumbianer in Spanien, im Winter in den Arenen Lateinamerikas.
    «Das Wichtigste sind Haltung und Stärke.» Alfredo schlägt sich fest auf den Hintern.
    «Fuerte! Sei stark und zeige niemals Angst!»
    Er baut sich vor mir auf, reckt seinen athletischen Körper, hebt das Kinn in den Himmel und streicht mit Dirigentenhänden sanft durch die Luft.
    «Du musst dem Stier mit Ruhe begegnen. Kein Zucken, keine schnellen Bewegungen. Movimientos muy armónicos. Absolute Harmonie.»
    Die nächste Lektion. Mit Stierhörnern in der Hand läuft Alfredo auf mich zu. Furchtlos lasse ich die Hörner kommen und führe sie mit dem Tuch langsam und ruhig an mir vorbei. Movimientos muy armónicos. Das war einfach.
    «Ist es wie Tanzen?»
    «Es ist ein Tanz. Ein Tanz mit dem Tod.»
    El Rubio de San Diego hat schon oft mit ihm getanzt und ist dem Tod dabei sehr nah gekommen. Einmal, nur ein einziges Mal war er unachtsam, und der Stier schlitzte ihn der Länge nach vom Bauch bis zur Brust auf. Alfredo saß monatelang im Rollstuhl, aber nach zwei Jahren ist er in die Arena zurückgekehrt. Der Torero lässt den Blick vom Boden bis zum Himmel schweifen.
    «Es una pasión. Una pasión muy grande. Wenn du einmalvor zwanzigtausend Menschen gekämpft hast, dann lässt dich deine Leidenschaft nie wieder los. Du verbindest dich mit dem Publikum und spürst die Angst, die sich verbreitet und wie ein eiskalter Hauch durch die gesamte Arena weht. Wir Toreros sind die Gladiatoren der Gegenwart.»
    Alfredo legt mir seine rechte Hand auf die Schulter.
    «Es ist nun an der Zeit zu sehen, was du gelernt hast. Blicken wir der Realität ins Auge.»
    Der Realität?
    «Dein Herz wird rasen, deine Kehle wird austrocknen, und du wirst den Wunsch verspüren, im Kampf zu sterben.»
    Der Torero wendet sich ab, verschwindet in den Katakomben, und wieder stehe ich mit meinem lächerlichen Tuch allein im Zentrum der Arena und weiß nicht, wie mir geschieht. Ich fürchte, diesmal ist es kein Trick. Alfredo meint es ernst. Aber irgendwie verspüre ich keinen Wunsch, im Kampf zu sterben.
    Ich atme durch und blicke auf das Tor der Arena. Fuerte! Haltung. Jetzt bloß keine Angst zeigen. Das Portal öffnet sich wieder, aber nun ist kein Mensch dahinter, sondern ein junges Tier mit spitzen Hörnchen. Eine kleine Kuh. Ich muss lachen, aber das vergeht mir schnell. Das pechschwarze Vieh jagt auf mich zu, senkt den Kopf, und ich kann ihm nur knapp ausweichen. Dieses Tier hat nichts mit einer gemütlichen deutschen Milchkuh gemein. Das hier ist eine spanische Chica.
    Die Kuh trabt aus. «Geh näher ran!», ruft Alfredo. «Mas cerca! Mas cerca!» Doch ehe ich reagieren kann, wetzt das Tier schon wieder auf mich zu. Diesmal streift es mich und reißt ein Loch in meine grüne Jacke. Ich versuche mich zu konzentrieren. Stärke. Keine Angst. Keine Zuckungen. Dem Stier mit Ruhe begegnen. Movimientos muy armónicos.Absolute Harmonie. Für eine Sekunde schließe ich die Augen, und in meinem Kopf geschieht etwas Sonderbares: Dreißig Jahre war mein Gehirn eine Disco. Laut, rastlos und vollgestopft mit Millionen viel zu komplizierten Gedanken. Kopfsalat. Doch jetzt bin ich kristallklar. Es gibt nur noch zwei Dinge: mich und diese Kuh. Mensch gegen Bestie.
    Ich öffne meine Augen und mache ein paar Schritte auf das Tier zu. Die Kuh steht einfach nur da, wartet auf der anderen Seite der Arena und fixiert mich. Fuerte! Das Kinn in den Himmel. Ich spanne alle Muskeln, die ich an mir finden kann, und hebe das Tuch. «Venga!»
    Meine Gegnerin lässt sich nicht lange bitten. Die Kuh nimmt Anlauf und prescht auf mich zu. Sie wird schneller, und ihre Schritte erschüttern den
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