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Miss Mary und das geheime Dokument

Titel: Miss Mary und das geheime Dokument
Autoren: Rose Melikan Stephanie Kramer
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es sich in ihrem Sitz bequem machte, kreisten ihre Gedanken jedoch unweigerlich um das Leben, das sie - vielleicht für immer - hinter sich ließ, und ihr wurde mulmig zumute. Drei Jahre war sie in Mrs. Bunburys Schule gewesen, mit gerade erst zwanzig war das eine lange Zeit. Den Schulalltag dort kannte sie in- und auswendig: morgens und abends ein Gebet unter Mrs. Bunburys Leitung; der Unterricht - manche Stunden waren interessant, manche ermüdend, die meisten aber einfach nur belanglos; die Mahlzeiten mit dem unvermeidlichen Strudel zum Dessert und nie genügend Milch für den Tee; der sonntägliche Kirchgang und dann die langen Nachmittage, die mit »Nützlichem« verbracht wurden wie dem Stopfen der Strümpfe.
    Mary ging im Geiste den Ablauf einer typischen Woche bei Mrs. Bunbury durch und lächelte leicht verbittert vor sich hin. Es war ganz und gar unmöglich, angesichts dieses Orts Heimweh zu verspüren. Dort passierte nie etwas Spannendes, und es machte auch niemand Interessantes seine Aufwartung. Das höchste der Gefühle war, wenn Miss Nichols mit Neuigkeiten über ihren Bruder triumphierte. Gewiss war nicht alles schlecht, und Mary würde die anderen Lehrerinnen sehr vermissen, zumindest die eine oder andere.
    Sie lugte aus dem Fenster und beobachtete, wie die herbstliche Landschaft an ihr vorüberzog. Es sah ziemlich trist aus, wenn sie ehrlich war. Der Wind hatte die Blätter von den Bäumen gefegt, und alles wirkte eintönig. Bei Sonnenschein hätte es noch ein heiterer Morgen sein können. Aber so erschien alles grau in grau. Dies alles beim Blick aus ihrem Kammerfenster zu sehen wäre für sie reizlos gewesen - abgesehen davon bot Mrs. Bunburys Schule überhaupt keinen solchen Ausblick - egal, wo man rausschaute. Aber dieser Blick hier, die Postkutsche, ihre Mitreisenden und sogar der Tumult im Eagle waren neu für sie, und das gab allem ein anderes Gesicht. Keine Schülerin, die am Ende des Schuljahrs der Quälerei im Klassenzimmer entflieht, vermochte einen größeren Freiheitsdrang zu verspüren, als sie es tat.

2
    Auf der Fahrt nach Newmarket kam so gut wie kein Gespräch auf. Da sich ihr nie die Gelegenheit dazu geboten hatte, wusste Mary nicht, wie sie einer Gruppe von fremden Männern gegenüber eine Konversation beginnen sollte. Ihre Mitreisenden dagegen wussten sehr wohl, worüber sie reden wollten, empfanden Marys Anwesenheit aber als störend. Es waren drei Städter mittleren Alters, die in einem rebellischen Anflug gegen die Tyrannei des häuslichen Alltags und ihrer Arbeit im Geschäft den Entschluss gefasst hatten, dem großen Rennen beizuwohnen. Ihrer Meinung nach war das Pferderennen zwar ein wichtiger Sport, für den man sein Kaufmannsgewölbe durchaus einen Tag lang geschlossen halten durfte, aber nichts für die Ohren einer jungen Dame. Deshalb war nur hin und wieder eine Anspielung möglich, und amüsante Bemerkungen darüber, was die Gemahlin wohl zu dem heutigen Abenteuer sagen würde, blieben unausgesprochen.
    Von Zeit zu Zeit durchdrang die Stimme des Kutschers die Stille im Wagen. Er war ziemlich geradeheraus und zeigte wenig Verständnis, wenn ihm jemand den Weg versperrte. Dabei schien es ihm gleichgültig zu sein, ob dies der jungen Dame zu Ohren kam oder nicht. Allerdings hatte er die Situation richtig eingeschätzt: Obwohl sie die Hindernisse nicht sehen konnte, die seinen Zorn schürten, hatte er in Mary eine Gleichgesinnte gefunden. Er ließ den Unfug dieser faulen Fuhrmänner oder der wichtigtuerischen Gentlemen, die dachten, sie könnten lenken, und dabei nicht die geringste Ahnung hatten, nicht durchgehen. Was hatten sie überhaupt auf der Straße verloren, wo doch andere Wichtiges zu tun hatten und sich von derartigen Albernheiten nicht aufhalten lassen wollten?
    »Aus dem Weg, verdammt noch mal. Wird’s bald?«
    Mary wünschte sich, auch sie könne so etwas sagen - zu Dr. Nichols zum Beispiel oder manchmal sogar zu Mrs. Bunbury. Nein , sie runzelte die Stirn, nicht »verdammt noch mal« - dann würde sie ja fluchen. »Um Himmels willen«, vielleicht. »Aus dem Weg um Himmels willen!« Das hörte sich fast genau so gut an.
    Das Durchkommen wurde ihnen jedenfalls zunehmend erschwert, je weiter sie sich Newmarket näherten, und Mary dachte besorgt an ihren Anschluss.Was, wenn sie ihn verpasste oder es in der Kutsche nach Suffolk - entgegen der Beteuerung des Wirts im Eagle - keine freien Plätze mehr gäbe? Sie sah sich schon mit ihrer schweren Tasche durch die
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