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Miss Lily verliert ihr Herz

Miss Lily verliert ihr Herz

Titel: Miss Lily verliert ihr Herz
Autoren: DEB MARLOWE
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darüber sprechen, obwohl mich der Gedanke quält, dass er aus mir unbekannten Gründen angeschossen wurde.“
    „Um Himmels willen!“, rief Lily aus. „Er wurde angeschossen? Welch aufregendes Leben er führen muss!“
    „Das tut er ganz und gar nicht. Diese Geschichte ist völlig untypisch für ihn. Eigentlich lebt er sehr zurückgezogen und verbringt die meiste Zeit über seinen Büchern. Er ist Wissenschaftler und interessiert sich mehr für alte Kulturen als für seine Mitmenschen.“ Lady Dayle warf Mr. Wilberforce einen kurzen Blick zu. „Im Gegensatz zu meinem älteren Sohn, den Sie ja durch Ihre parlamentarische Arbeit kennen, hat Jack mir früher nie Sorgen bereitet.“
    „Ich schätze Lord Charles Dayle sehr“, gab der Gentleman zurück, während Lily sich bemühte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Mr. Alden hatte sein Leben der Erforschung der Vergangenheit gewidmet und interessierte sich mehr für Bücher als für Menschen? Das passte so gar nicht zu dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte.
    Dieses Bild konnte natürlich völlig falsch sein. Sie wusste nicht viel über Männer. Ihren Vater allerdings – davon war sie überzeugt – hatte sie recht gut gekannt. Und heute schien er ihr so nah zu sein wie seit Jahren nicht mehr. Das hatte sicher etwas mit Mr. Cooperages Heiratsantrag zu tun. Der angehende Missionar war so ganz anders als ihr verstorbener Papa. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Lily sich gestattet hatte, von einem Gatten zu träumen, hatte sie sich diesen stets als einen Gentleman vorgestellt, der ihrem Vater ähnelte.
    Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie sich die schelmisch funkelnden Augen, das strahlende Lachen und die nie versiegende Lebensfreude ihres Vaters ins Gedächtnis rief. Und wie interessiert er an allem Neuen gewesen war! Er hätte sich bestimmt nicht hinter alten Büchern versteckt.
    In diesem Moment wurde ihr klar, dass sie selbst sich während der letzten sieben Jahre in gewisser Weise versteckt hatte. Sie wäre so gern das kleine Mädchen geblieben, das von seinem Papa verwöhnt wurde, doch stattdessen hatte sie sich bemüht, die gehorsame Tochter zu sein, die ihre Mutter sich wünschte. Nun, damit war jetzt Schluss!
    Natürlich hatte sie nicht vor, ihre Mama im Stich zu lassen oder von den Zielen der christlichen Reformbewegung abzurücken. Schließlich zweifelte sie nicht daran, dass das, was diese Gruppe forderte, richtig war. Dennoch musste manches an ihrem persönlichen Dasein sich ändern. Ja, es war an der Zeit herauszufinden, welche Art von Frau sie wirklich war und wie ihr zukünftiges Leben aussehen sollte.
    Jack Alden konzentrierte sich auf seine Umgebung. Dies war nicht die beste Zeit, um sich ins Eastend zu wagen, erst recht nicht allein. Aber er war froh gewesen, der Gesellschaft seines Bruders zu entkommen, nachdem dieser ihn in aller Deutlichkeit für sein unvernünftiges Verhalten getadelt hatte. Bei Jupiter, hatte Jack gedacht, wenn Charles schimpft, weil ich mit ein paar temperamentvollen Pferden ausfahre, dann wird er mich auch von meinen weiteren Plänen für den Abend abbringen wollen.
    Also hatte er sich von seinem Bruder verabschiedet und Pettigrews Phaeton samt Pferden allein zu ihrem Besitzer zurückgebracht. Dann hatte er sich zu Fuß auf den Weg zum Fluss gemacht, dorthin, wo sich das verwaiste Büro und die angeblich verlassenen Lagerhäuser von Gustavo Batiste befanden.
    Abends hielt sich kaum jemand in der Little Bure Street auf. Zwei Dirnen traten aus einem Hauseingang. Als sie ihn ansprachen, schüttelte Jack nur den Kopf und ging rasch weiter. Er wusste, dass alle, die in diesem Viertel legalen Geschäften nachgingen, längst Feierabend gemacht hatten. Und für die meisten, die sich gegen das Gesetz gestellt hatten, war es noch zu früh, um ihre verbotenen Tätigkeiten aufzunehmen. Noch konnte er sich also ziemlich sicher sein, ungestört zu bleiben.
    Trotzdem sah er sich forschend um, ehe er in eine schmale Seitengasse trat. Einen Moment lang blieb er stehen, sodass seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Dann ging er vorsichtig weiter, bis er zu einer Holztreppe kam. Leise stieg er hinauf und blieb schließlich vor einer geschlossenen Tür stehen. „G. Batiste & Co.“ verkündete ein rostiges Schild.
    Bei ihrem letzten Gespräch waren Mervyn Latimer und Treyford der Meinung gewesen, er würde hier nur seine Zeit vergeuden. Sie behaupteten, seit Monaten habe niemand mehr das
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