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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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und soll heißen: Wir fangen noch einmal neu an?
    Ich stottere meinen Namen, er wiederholt den seinen – hoho, wie bescheiden, als wüssten nicht alle, wer er ist! – und das war’s. Der Nächste, ein bebrillter Streber, schiebt mich weiter, auch er will endlich dem Oberarzt die Hand schütteln. Ich trete beiseite und stehe zwischen meinen neuen Freundinnen, völlig verdattert. Das war’s. Kein Wiedererkennen, kein Lob für meine Rettung von Frau Klein, keine Standpauke wegen meiner Drohung an den weinerlichen Radfahrer, nichts. Na gut, Herr Oberarzt, dann fangen wir eben noch mal neu an. Mir soll es recht sein!
    Dr. Thalheim hält eine kurze Ansprache, nichts, was wir nicht schon wussten. Ab morgen nehmen wir an der Visite teil. Dabei werden den Patienten die Untersuchungsergebnisse mitgeteilt und anstehende Untersuchungen oder Eingriffe besprochen. Einmal pro Woche findet eine Oberarztvisite statt – und dann sind da natürlich noch die gefürchteten Chefarztvisiten. Außerdem werden wir Infusionen anlegen, Befunde beschaffen und Blut abnehmen. Selbstverständlich können wir uns jederzeit an die Stationsärzte wenden oder die Schwestern um Hilfe bitten.
    Â»Aber theoretisch können Sie ja alles«, ermutigt uns der Oberarzt, »und wer sich nicht sicher ist, sollte dringend üben!« Gut, das könnte ich jetzt doch noch als Anspielung nehmen. Aber weil Dr. Thalheim dabei nicht in meine Richtung schaut, beschließe ich, mich nicht explizit gemeint zu fühlen. Wir werden ja sehen, wie die anderen sich schlagen, wenn sie diesem Manuel Rittermit der Kanüle zu Leibe rücken müssen. Zum Schluss seiner Rede kommt Dr. Thalheim zu dem Punkt, auf den wir alle warten: eigene Patienten. Sobald der Oberarzt es für richtig hält, werden uns die ersten eigenen Patienten zugeteilt. Das Leuchten in den Gesichtern meiner Mit-Anfänger könnte den ganzen Raum illuminieren. Das ist es, warum wir hier sind! Jeder träumt von dem großen Fall, der besonderen Diagnose, dem ersten eigenen geretteten Patienten!
    Â»In spätestens zwei Wochen«, lächelt Dr. Thalheim, »sollten Sie alle Ihren ersten Fall bekommen.«
    Ich kann es kaum erwarten. Dann entlässt er uns in den Feierabend, ausnahmsweise schon am Nachmittag, weil die nächsten Wochen ja noch hart genug werden. Ich hake meine Mädels unter, vor lauter Vorfreude kriegt keine von uns das Grinsen aus dem Gesicht! Unsere Zukunft hat begonnen! Draußen müssen wir uns kurz umarmen. Kein normaler Mensch kann unsere Begeisterung verstehen. Aber ich will Ärztin werden, seit ich denken kann. Schon mit vier habe ich komplizierte OPs an allen verfügbaren Puppen und Teddys vorgenommen; seit ich vierzehn bin, lese ich im Pschyrembel wie andere in der Bravo. (Okay, Bravo hab ich natürlich auch gelesen.) Ich bin während des Studiums zu einer wahren Lernmaschine geworden, hatte ein verkümmertes Sozialleben und vor lauter Schlafmangel in den Prüfungszeiten Augenringe wie ein Pandabär. Aber was spielt das jetzt noch für eine Rolle?! Ich bin hier! Ich werde in spätestens zwei Wochen meinen ersten eigenen Patienten behandeln! Gerade denken wir nicht an all die Fallen, nicht an das Hammerexamen am Ende des Jahres, nur an das Morgen, das genau heute angefangen hat. Wir werden alles meistern!
    Â»Und jetzt«, grinst Jenny, »werden wir uns feiern!«
    So habe ich mir das vorgestellt!

B erlin ist verdammt groß. Bis gestern dachte ich, ich würde die Stadt schon kennen – immerhin war ich seit der achten Klasse fast jedes Jahr mit meinem Lübecker Gymnasium hier. Klassenfahrt, Kursfahrt, Kunstexkursion – immer nach Berlin. Reichstag, Mahnmal, Nationalgalerie, das alles entlockt mir nur noch ein müdes Lächeln. Deshalb war ich bis gestern überzeugt, ich wüsste, was auf mich zukommt. Irrtum! Als wir aus der Klinik treten, weiß ich nicht mal, in welche Richtung wir müssen. Zwar stehen gelbe Schilder an der Straße und weisen die Stadtteile aus – aber was nutzt das, wenn ich nicht weiß, ob unsere Wohnung von hier aus eher Richtung Pankow oder Richtung Neukölln liegt? Wo ist der blöde Fernsehturm, wenn man mal Orientierung braucht? Und wie konnte die S-Bahn-Station, aus der wir heute Morgen gekommen sind, über Tag spurlos verschwinden? Jenny, beneidenswerterweise geborene Berlinerin, beschließt, uns an
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