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Miss Emergency

Miss Emergency

Titel: Miss Emergency
Autoren: Antonia Rothe-Liermann
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angeeignet. »Angeblich ist sie ziemlich bequem und die PJler dürfen bei ihr machen, was sie wollen«, erzählt sie vergnügt. (Und leider flüstert sie nicht so leise, wie sie glaubt.) Dass Dr. Ross scheinbar keine großen Ansprüche stellt, kommt Jenny gerade recht. Sie hat uns gestern an unserem ersten gemeinsamen Abend gleich unbekümmert verkündet, dass sie nicht vorhat, sich im Praktischen Jahr krummzuarbeiten. Isa hingegen, unsere stille Pflanze, scheint von Dr. Ross’ angeblichem Laisser-faire beunruhigt.
    Â»Lernen wir denn dann auch genug?«, fragt sie zaghaft. »Am Ende der PJ-Zeit kommt schließlich die schwerste Prüfung unseres Lebens …« Isas Geständnis des ersten Abends war, dass sie jetzt schon für das Hammerexamen lernt – die Monsterprüfung, die uns am Ende des Praktischen Jahres bevorsteht und ohne die niemand als Arzt zugelassen wird. Jenny und ich haben sofort geschrien, es sei vollkommen übertrieben, sich jetzt schon so einen Druck zu machen. Aber ich gebe zu, mein Lernplan ist auch bereits fertig …
    Ich betrachte die beiden höchst unterschiedlichen Mädchen an meinem Tisch. Im Grunde weiß ich außer den beiden erwähnten Geheimnissen nichts über meine Mitbewohnerinnen. Oder nur das Offensichtliche: Jenny sieht gestylt aus, lacht ganz schön viel und ziemlich laut und wirkt wie Miss Selbstbewusstsein persönlich. Isa scheint eher der vorsichtige, zurückhaltendeTyp zu sein – aber vielleicht habe ich Glück und sie ist ein stilles Wasser. Als ich gestern Abend endlich die letzte monströse Reisetasche in die Wohnung gewuchtet hatte, blieb uns Neu Wohnpartnerinnen nur noch Zeit, die allerwichtigsten Dinge zu klären: Wer hat einen festen Freund? (Man sollte es nicht glauben: keine!) Was gehört unbedingt in den Kühlschrank? ( Jenny: viel Obst und Getränke in Rosa, Isa: Bio, aber nicht zu teuer, ich: Eis, Eis, Eis – das esse ich literweise beim Lernen und Fernsehen.) Und: Wie regeln wir das morgens mit dem Badezimmer, wenn wir alle gleichzeitig im Krankenhaus sein müssen? (Scheinbar unproblematisch: Isa und Jenny behaupteten beide, in Minutenschnelle fertig zu sein. Heute Morgen ließ sich das nicht beurteilen, denn Isa war offenbar schon seit Stunden wach, als ich aufstand – und Jenny hätte fast verschlafen.) Nicht viel also, was ich gestern über »meine« Mädels in Erfahrung gebracht habe. Heute Abend muss ich dringend ein bisschen mehr über die beiden Weggefährtinnen herausfinden, die mir das Schicksal als Begleitung für das aufregende Jahr ausgesucht hat, das vor mir liegt. Ich kann es nicht fassen: Vorgestern saß ich noch bei Mama und Papa in Lübeck und habe mir ein letztes Mal bergeweise Kartoffelbrei aufdrängen lassen. Heute sitze ich im weißen Kittel in der Cafeteria eines großen Berliner Krankenhauses, angehende Ärztin, unabhängige Neuberlinerin. Das also soll jetzt mein Leben sein. Für das ganze kommende Jahr. Hilfe! Irre! Perfekt!
    Die Mittagspause ist fast zu Ende. Vielleicht sollte ich doch noch schnell einen Pudding essen. Falls der Tag so weitergeht, kann ich gar nicht genug prophylaktische Zuckereinheiten zuführen.
    Am Tresen steht ein junger Mann mit blauen Haaren. Was es alles gibt. Ich greife nach einem Pudding und stelle mir blitzartig vor, er würde mir aus der Hand rutschen. 100 zu 1, dass ich weiß, wer in diesem Moment hereinkäme. Ich muss grinsen. Der Blaugefärbte grinst zurück. »Erster Tag?«
    Ich nicke. »Praktisches Jahr.«
    Er lächelt. »Und wie war dein Start?«
    Ich kann nicht anders und antworte: »Ach, ich glaube, ich habe mich bisher von meiner besten Seite gezeigt.«
    Der blaue Junge kann natürlich nicht verstehen, warum ich darüber so grinse. Aber er schmunzelt. Und schenkt mir den Pudding. Prima, Lena! Ich spreche mir ein offizielles Lob aus. Wer alles mit Humor nehmen kann, ist unantastbar. Ich fühle mich gewappnet für die weiteren Begegnungen mit Dr. Thalheim. Immerhin bin ich hier, um Ärztin zu werden. Dafür muss ich ein ganzes Jahr bleiben – selbst wenn ich »die mit den Beinen« bin. Wenn ich also die Alternative, als Verkäuferin glücklich zu werden, streiche, bleibt mir nur, mit Abgebrühtheit und Selbstironie voranzustiefeln. Wie zur Belohnung kommt die restliche Mittagspause niemand mehr in die
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