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Milner Donna

Milner Donna

Titel: Milner Donna
Autoren: River
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Treppe.
    In dieser Dachkammer war es an manchen Wintertagen so kalt, dass man den eigenen Atem sah. Im Sommer konnte die stickige Luft nicht einmal durch das offene Fenster abziehen. Boyer beklagte sich nie. Das Zimmer war sein Heiligtum, und wer von uns ihn dort besuchen durfte und die Bücher sah, die nach und nach jeden freien Platz einnahmen, beneidete ihn um die Welt, die er sich unter dem Dachvorsprung des Farmhauses geschaffen hatte, das mein Großvater um die Jahrhundertwende erbaut hatte.
    Ich war das einzige Mädchen und hatte deshalb ein eigenes Zimmer. Es war Boyers Zimmer gewesen, bis ich auftauchte und die Schlafordnung über den Haufen warf. Wenn er mir das jemals verübelt hat, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Ich hätte mein Reich gern mit ihm geteilt. Ich war zu klein, um zu begreifen, dass er unbedingt ein Zimmer für sich haben wollte.
    Jeden Morgen war Boyer der Erste, der über das geschlossene Treppenhaus in die Küche hinunterging. Er stocherte in der Glut, warf dann ein Anzündholz darauf, um den gusseisernen Herd für Mom anzuheizen, ehe er sich auf den Weg in den Stall machte. Nachdem wir 1959 den Elektroherd bekommen hatten, ging er direkt zur vorderen Veranda, wo er, winters wie sommers, in seine kniehohen Gummistiefel stieg. Und jeden Morgen, zehn Minuten vor fünf, ließ Boyer die Küchentür hinter sich zufallen. Das Signal, mit dem er jedermann kundtat, dass er sich jetzt auf den Weg zum Stall machte. In der frühmorgendlichen Dunkelheit trieben er und der Farmarbeiter Jake, der über der Molkerei wohnte, die Kühe von der Weide herein.
    Morgan und Carl hatten es nie eilig, in den Tag zu starten. Meistens rief mein Vater nach oben und drohte seinen jüngeren Söhnen mit eiskaltem Wasser. »Mutt & Jeff« nannte er sie, nach den beiden Comicfiguren. Morgan war zwei Jahre älter als Carl, aber schon als Kleinkind war Carl größer als sein Bruder. Die beiden waren dicke Freunde, unzertrennlich. Kam Morgan, sich den Schlaf aus den Augen reibend, die Treppe herunter, wussten wir, dass Carl gleich hinterhertorkeln würde; seine dicken Wollsocken bildeten Wülste vor seinen Füßen. Mom schalt ihn deswegen und sagte, er solle seine Socken hochziehen, und wir alle wunderten uns, dass er nicht dauernd stolperte, vor allem in dem dunklen Treppenhaus, aber irgendwie gehörten sie ebenso zu ihm wie seine Zehen.
    Die morgendliche Parade meiner Brüder wiederholte sich mit derselben Zuverlässigkeit wie die Gebete meiner Mutter.
    Mom betete bei jeder Gelegenheit und sorgte dafür, dass wir es auch so hielten. Vor jeder Mahlzeit senkten wir den Kopf, bevor noch eine Gabel gegen einen Teller klapperte. Jeden Abend nach dem Melken rief sie uns, den Rosenkranz in der Hand, in den Salon. Unter den Bildern von Jesus und Maria, die auf dem Kaminsims standen, betete sie vor: »Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir.« Ich kniete neben meinen Brüdern auf dem zerkratzten Linoleum mit dem rosa und grauen Blumenmuster und bemühte mich, nicht herumzuzappeln. Mom glaubte felsenfest an den Spruch: »Die Familie, die zusammen betet, bleibt auch zusammen.«
    Als ich noch ganz klein war, blinzelte ich zu Moms gesenktem Kopf hinauf, sah, wie sie die Lippen bewegte und die Perlen durch die Finger gleiten ließ, und dachte, dass ich das Beten, wenn man dadurch so schön wurde, richtig machen wollte.
    Mutter war als Protestantin aufgewachsen. Als sie und Dad heirateten, konvertierte sie und warf sich der katholischen Kirche mit der Begeisterung eines ausgehungerten Liebhabers in die Arme.
    »Als ich mit deinem Vater zum ersten Mal St. Anthony’s betrat, wusste ich, dass ich dazugehörte«, erzählte sie mir. »Es war so ein Gefühl von Beständigkeit, als wären die Statuen, die Gemälde und die Ikonen immer schon da gewesen – und würden für immer bleiben. Das Licht, das durch die Buntglasfenster flutete, die Rituale, die ewig brennenden Kerzen, der Weihrauch …«, sie dachte nach, als führte sie ein Selbstgespräch, »das alles fühlte sich irgendwie richtig an.«
    Die Rosenkranzperlen waren ihr Trost, etwas Solides, woran man sich festhalten konnte. »Zu konvertieren war«, sagte sie, »wie nach Hause zu kommen.«
    Sie versprach ihre noch ungeborenen Kinder der katholischen Kirche. Doch mit Ausnahme von Boyer – und auch bei ihm hielt es nicht lange vor – wurde keiner von uns je so fromm wie sie.
    Unser Vater, als Katholik zur Welt gekommen, war längst nicht so
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