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Milchrahmstrudel

Milchrahmstrudel

Titel: Milchrahmstrudel
Autoren: Mehler Jutta
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Seniorenheims hinauf und stieß dort, wo die Stufen auf halbem Weg zwischen Erdgeschoss und erstem Stock eine Biegung machten und dadurch einen breiten Absatz entstehen ließen, auf die blutbefleckte Leiche – genau genommen auf die mutmaßliche Leiche – des Pflegers Roland Becker.
    Es war keineswegs das erste Mal, dass Fanni ein Todesopfer entdeckte. Im Vorjahr hatte sie Willi Stolzer tödlich verletzt im Deggenauer Klettergarten gefunden, und etliche Monate davor hatte sie den Birkdorfer Pfarrer leblos am Grab des Bürgermeisters liegen sehen. Drei Jahre war es her, dass Fanni auf dem Gipfel des Großen Falkenstein jenem weißen Turnschuh begegnete, der zu einem ermordeten Mädchen gehörte; und vier Jahre waren vergangen, seit Fanni die pinkfarbene Sandale an einer Toten erblickte, die als Fannis Nachbarin Mirza bekannt gewesen war.
    Alle gewaltsam ums Leben gebrachten und kurz darauf von Fanni aufgefundenen Personen hatten stets geduldig ausgeharrt, bis die Polizei eintraf. Sie hatten sich untersuchen und obduzieren lassen, hatten dies und das preisgegeben und letztendlich in der einen oder anderen Weise auf den Täter hingewiesen.
    Doch diesmal sollte alles anders sein.
     
    Fanni drückte sich an dem reglos Daliegenden vorbei und hastete die Treppe zum ersten Stock hinauf, um Hilfe zu holen.
    Eine Schwester muss her, besser noch ein Arzt, pochte es in ihrem Kopf. Womöglich lässt sich Roland wiederbeleben – mit Sauerstoff, mit Herzmassage, mit irgendwas. Dass er daliegt wie ein Toter muss noch gar nichts heißen. Er ist doch noch so jung – dreißig höchstens.
    Schwesternzimmer, zweiter Gang links!
    Außer Atem erreichte sie die Tür mit der Aufschrift »Station I«.
    Fanni klopfte kurz an, dann drückte sie die Klinke und öffnete. Drei leere Stühle und drei leere Kaffeetassen glotzen ihr entgegen. Sie warf die Tür wieder zu und schaute gehetzt den Gang hinauf und hinunter.
    Aufenthaltsraum – im nächsten Flur!
    Fanni setzte sich in Bewegung. Auf jedem Stockwerk gab es eine gemütliche, durch Paravents und Pflanzen vom Hauptflur abgetrennte Ecke, in der sich diejenigen Senioren zusammenfanden, die ein, zwei Stündchen in Gesellschaft verbringen wollten. Fanni rechnete damit, dort auch eine der Schwestern anzutreffen, denn Luise hatte ihr erzählt, dass das Pflegepersonal alle Hände voll damit zu tun hatte, in den Aufenthaltsräumen Streit zu schlichten und Tränen zu trocknen.
    Doch nicht einmal Dellen in den Polstermöbeln zeugten davon, dass kürzlich jemand hier gesessen hatte.
    Fanni begann zu hecheln. Wo waren sie denn alle? Wo, verflucht noch mal, waren die Schwestern? Um vier Uhr nachmittags mussten sie weder Mahlzeiten verteilen noch Medikamente ausgeben.
    Lauf einfach die Gänge entlang. Irgendwo musst du ja auf jemanden treffen!
    Fanni rannte los.
    Sie bog zweimal ab, rannte weiter, nahm die nächste Ecke und stieß in etwas Weiches.
    Als sie den Blick hob, sah sie in die vorwurfsvollen Augen des Pflegedienstleiters Erwin Hanno.
    Er nahm sie bei den Schultern und schob sie ein Stückchen von sich weg, damit wieder Luft zwischen sie und seinen fülligen Körper strömen konnte.
    Fanni registrierte, dass Herrn Hannos Schnurrbart indigniert zitterte.
    »Aber Frau Rot«, sagte er streng. Plötzlich stutzte er. »Geht es Ihrer Tante etwa nicht …«
    Fanni schüttelte ungestüm den Kopf. »Nein, es handelt sich um Roland. Schnell, kommen Sie mit. Roland Becker, der Pfleger, liegt blutüberströmt auf der Hintertreppe.«
    Sie begann wieder zu laufen.
    Weil sie keine Schritte hinter sich hörte, wandte sie den Kopf und rief über die Schulter zurück: »Beeilen Sie sich! Vielleicht ist ihm ja noch zu helfen.«
    Da setzte sich der Pflegedienstleiter in einen schaukelnden Trab.
    Fanni rannte zur Treppe, nahm die Stufen zum Absatz hinunter in drei Sprüngen und kam am angeblichen Fundort der angeblichen Leiche zum Stehen.
    Und dann stierte sie mit offenem Mund die marmorierten Bodenfliesen an, auf denen es nichts zu sehen gab – nicht einmal eine Staubfluse.
    Schwer atmend traf Erwin Hanno am Treppenabsatz ein.
    »Ich …«, sagte Fanni.
    Ein missbilligender Blick traf sie und ließ sie verstummen.
    Fanni schluckte. Ihre Augen suchten den Fußboden ab, musterten die Wände.
    Nichts.
    Sie schaute zum Pflegedienstleiter auf, der sichtlich entrüstet war.
    »Er …«, krächzte Fanni, räusperte sich, sprach stockend weiter: »Er wird sich weggeschleppt haben. Wir müssen ihn suchen. Müssen ihn
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