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Milchfieber

Milchfieber

Titel: Milchfieber
Autoren: Thomas B. Morgenstern
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Heiterkeitsausbruch verursacht. Er musste ein kleines Referat halten über das „Hochwallfort Grauerort“ und er konnte das schwierige Wort „Hochwallfort“ nicht richtig aussprechen. Er sagte nach einigen Verhaspelungen immer „Wallfahrtsort“. Er musste das Referat nicht zu Ende halten, weil sein Lehrer jedes Mal, wenn er wieder den falschen Begriff gebrauchte, prustend zu lachen begann. Er überlegte und es fiel ihm wieder ein, was er damals gelernt hatte. In den sechziger Jahren war eine Firma in das alte Fort aus dem 19. Jahrhundert eingezogen. In den Jahren seit dem Bau war kein einziger Schuss daraus abgegeben worden. Keine feindliche Macht hatte je versucht, die Elbe mit ihrer Flotte zu befahren, um Hamburg zu erobern. Das Fort verfiel immer mehr, bis eine „Delaborierungsfabrik“ einzog, die das genaue Gegenteil als Geschäftsgrundlage hatte, wofür das Fort eigentlich erbaut worden war. Sie zerstörte Munition, statt, wie eigentlich vorgesehen, mit der Munition zu zerstören. Aus aller Herren Länder wurden reich gefüllte Munitionskisten zum alten Fort Grauerort geschickt. Meistens waren die Kugeln, Handgranaten und Mörsergeschosse in billigen Holzkisten verpackt, die nach der Entleerung ein begehrter Baustoff für die umliegenden Bauern wurden. Allmers erinnerte sich, dass sein Vater einmal stolz mit einem ganzen Stapel dieser dünnen, manchmal schon von Holzwürmern angenagten Bretter nach Hause gekommen war und sich sofort daran gemacht hatte, daraus ein Hühnerhaus zu bauen. Erst viele Jahre später fiel der fragile Bau in einem Sturm in sich zusammen. Manche Bauern besserten damit auch die Böden ihrer Heuspeicher aus. Das hatte schließlich Jürgen Hintelmann das Leben gekostet.
    „Meinst du“, fragte Allmers, nachdem er sich Milch in den Kaffee geschüttet hatte, „Irene war sehr unglücklich?“
    „Er hat sie mies behandelt“, erwiderte Hella Köhler, „aber das weiß jeder. Sie hat ab und zu ein blaues Auge gehabt. Ich glaube, die Trauer hält sich in Grenzen.“
    „Wusstest du“, fragte er, „dass Jürgen eine Unfallversicherung abgeschlossen hatte? Keine drei Monate vor seinem Tod?“
    „Woher weißt du das denn?“, wunderte sich Hella Köhler.
    Allmers zuckte mit den Schultern.
    „Ich kann es mir denken“, sagte Hella verschwörerisch. „Du verrätst mir hier doch nicht etwa dienstliche Geheimnisse der Stader Staatsanwaltschaft?“
    „Das würde ich nie tun“, sagte Allmers mit Ernst in der Stimme.
    „Glaubt dein Bruder etwa?“, Hella Köhler war ehrlich entsetzt. „Niemals. Irene ist für so etwas viel zu feige. Das ist doch Quatsch. Wie tief ist Jürgen denn gefallen? Drei Meter? Oder mehr?“
    „Ich sehe das genauso. Wenn man jemanden umbringen will, wirft man ihn nicht drei Meter irgendwo herunter. Das müssen dann schon sechs oder sieben sein. Manchmal verstehe ich ihn nicht.“
    Allmers wusste, dass das so nicht stimmte. Eigentlich, dachte er, verstehe ich ihn überhaupt nicht.
    „Wann kommst du wieder zur Kontrolle?“, fragte Hella Köhler, als Allmers aufstand.
    „In den nächsten Tagen“, sagte Allmers. „Kann ich ein paar mitnehmen?“ Als sie nickte, steckte er sich ein paar Korvapuusti in die Tasche.
    „Hans-Georg“, rief sie ihm nach, als er schon im Hof stand. „Kommst du bitte noch mal.“
    Allmers ging zurück in die Küche, Hella sagte: „Ich habe noch etwas vergessen.“
    Allmers setzte sich an den Küchentisch, ratlos, was sie vorhatte.
    „Ich wollte dich etwas bitten“, sagte sie ernst. „Meine Tochter möchte es nicht machen, da habe ich mir gedacht, vielleicht bist du der Richtige.“
    Allmers zuckte nur mit den Schultern und konnte sich keinen Reim auf Hellas Wunsch machen.
    „Ich will ein Buch schreiben“, sagte Hella. „Ein Backbuch. Die meisten Kochbücher vernachlässigen die Kuchen. Und kannst du mir vielleicht dabei helfen?“
    Allmers stand auf und küsste sie auf die Stirn: „Wunderbar“, sagte er. „Ich bin dabei. Schließlich bin ich der größte Profiteur.“
    Hella Köhlers Backkünste waren unübertroffen. Allmers hatte schon öfter mit Schaudern daran gedacht, wie arm seine Welt werden würde, sollte Hella einmal nicht mehr backen können. Schon einmal hatte er die schlimmsten Befürchtungen gehabt. Als sie immer schneller erblindete, war ihm klar, dass es mit ihren Backkünsten irgendwann zu Ende sein würde, da sie, wie er meinte, die Zutaten einfach nicht mehr im angemessenen Verhältnis würde abwiegen
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