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Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition)
Autoren: Jutta Mehler
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erdrückend«, antwortete Fanni so gleichgültig, als ob sie sich über einen Freitagabendkrimi im ZDF unterhielten.
    Hans warf ihr einen unwilligen Blick zu. »Als da wären?«
    Fanni unterdrückte das Bedürfnis, sich zurückzulehnen und einfach die Augen zu schließen. Irgendwann in den letzten Stunden hatte eine seltsame Erschöpfung von ihr Besitz ergriffen, die es ihr schwer machte, geradlinig zu denken.
    Du solltest dich mal ein bisschen zusammenreißen!
    Fanni versuchte es. Sie erhob sich, und während sie im Zimmer langsam auf und ab schritt, sammelte sie so gut es ging Kräfte. Nach einer Weile begann sie akribisch darzulegen: »Als Argument für Alexander Pauß’ Täterschaft lässt sich Folgendes anführen: Er kam zu einem Zeitpunkt, der mit ziemlicher Sicherheit der Tatzeit entspricht, aus dem Sprechzimmer von Frau Bogner. Alexander sagt selbst, dass er es kurz nach zehn Uhr verlassen hat, und ich kann das bezeugen, weil er mir auf dem Flur begegnet ist. Am Tatort hat man Spuren gefunden, die wenn nicht auf einen Kampf, so doch auf einige Irritationen schließen lassen. Man hat Fingerabdrücke und Gewebeproben genommen, und es steht fest, dass man Alexanders DNS nicht nur an den Armlehnen des Patientenstuhls finden wird, denn ich habe selbst miterlebt, wie er die tote Frau Bogner umarmt hat, nachdem er zurückgekehrt war.«
    »Und zuvor hat er sie wahrscheinlich umgebracht«, meldete sich Hans Rot zu Wort. »Heißt es nicht, jeder Täter kehrt postwendend an den Tatort zurück?«
    Jeder? Postwendend? Da läge die Aufklärungsquote ja bei 99,99 Prozent!
    Hans sprach bereits weiter: »Das kommt davon, wenn man Psychopathen wie diesen Grapscher frei herumlaufen lässt. Eingesperrt gehören sie allesamt. Je tiefer hinter Gitter, desto besser. Privatklinik, Gesprächsrunden, Farbtherapie, Klangbehandlung – Humbug, Blödsinn, Verschwendung von Zeit und Geld.«
    Fanni schluckte, dann fuhr sie fort, als hätte es keine Unterbrechung gegeben: »Für mich als Täterin spricht ebenfalls eine ganze Menge. Wie mir der ermittelnde Beamte akkurat vorgerechnet hat, hätte ich Frau Bogners Zimmer exakt um zehn Uhr fünf betreten müssen, denn Alexander hat auf die Uhr gesehen, nachdem er auf dem Flur an mir vorüber war – was natürlich ebenfalls im Rahmen der Tatzeit liegt. Ich hätte also eintreten, die Leiche sehen und sofort den Notruf absetzen müssen. Die Doppelnull wurde aber erst um zehn Uhr vierundzwanzig gewählt; und zwar von Alexander, der inzwischen zurückgekommen war. Nun fragt sich die Polizei: Was hat Fanni Rot diese zwanzig Minuten lang gemacht?«
    »Ehrlich gesagt frage ich mich das auch«, entgegnete Hans Rot.
    Fanni zögerte mit der Antwort. Sie fürchtete, dass ihr Hans genauso wenig Glauben schenken würde wie der Kriminalbeamte, wenn sie jetzt sagte, dass sie eine ganze Weile – zehn Minuten womöglich – sinnierend vor der Tür zu Frau Bogners Sprechzimmer gestanden hatte.
    Aber er brummte bloß: »Typisch Fanni.«
    Sie entspannte sich ein wenig und berichtete weiter. »Nachdem ich eingetreten war, bin ich erst einmal starr vor Schreck dagestanden, bis ich auf den Gedanken kam, Frau Bogner könnte mir das alles nur vorgespielt haben, um ein Schlüsselerlebnis zu provozieren …« Sie unterbrach sich, weil sie merkte, wie Hans Rot vor sich hin murmelte.
    »Schlüsselerlebnis«, seine Stimme wurde lauter, »Flashback, Retraumatisierungseffekt! Ich kann den Schmarrn nicht mehr hören. Du hast eine Gedächtnislücke, na und? Was du von den vergangenen sechs Jahren wissen musst, kann ich dir in drei Sätzen sagen, die du getrost gleich wieder vergessen darfst. Ich hab es euch von Anfang an gesagt, dir und Leni: Wir streichen diese sechs Jahre und machen da weiter, wo deine Erinnerung abbricht. Das ist für alle das Beste, das Gescheiteste, das Gesündeste und das Einfachste. Aber nein, ihr habt ja nicht auf mich hören können. Leni mit ihrem Gefasel vom Recht auf persönliche Erinnerungen und du mit deiner Behauptung, ohne Blick in die Vergangenheit könne man keine Entscheidungen für die Zukunft treffen. Vergangenheit! Bis auf sechs Jahre – die man bedenkenlos streichen kann – steht dir deine gesamte Vergangenheit zur Verfügung. Das sollte doch wohl genügen, um dir zu zeigen, wo du hingehörst.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber was rede ich mir den Mund fusselig. Fakt ist, du und Leni habt euren Willen durchgesetzt, und dafür sitzt du jetzt in der
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