Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Milchbart (German Edition)

Milchbart (German Edition)

Titel: Milchbart (German Edition)
Autoren: Jutta Mehler
Vom Netzwerk:
Plötzlich spürte sie einen scharfen Schmerz in ihrer Linken und öffnete sie reflexartig. Als ihr Blick auf den Handteller fiel, zeigte sich ein tiefer Schnitt, aus dem Blut quoll. Fanni schaute verständnislos auf die Wunde. Erst nach einer Weile nahm sie den Gegenstand in Augenschein, den sie mit der Rechten noch festhielt. Es handelte sich um eine fast dreißig Zentimeter hohe Figur aus Metall.
    Fanni beförderte sie vorsichtig auf den Schreibtisch zurück. Sie kannte diese Art von kunsthandwerklichen Figuren gut, hatte selbst eine davon für Leni gekauft, die ein Faible dafür hatte. Die Besonderheit all jener Figuren aus dunklem Stahl – es gab auch Tiere, hauptsächlich aber menschliche Gestalten, die gerade irgendeiner Beschäftigung nachgingen – lag darin, dass sie so weit als möglich aus technischen Kleinteilen gefertigt waren. Köpfe bestanden aus Muttern, Kniegelenke aus Schrauben, Hüftknochen, Schuhe, Räder oder Werkzeugköpfe wiederum aus Muttern. Leni besaß beispielsweise einen Hund, der gerade einen Schraubenknochen fraß, und ein Schülerpaar, das mit Schraubengriffeln auf eine Tafel aus Muttern schrieb.
    Die Figur, die nun rücklings auf der Schreibtischplatte ein wenig hin- und herschaukelte, weil sie keine glatten Flächen aufwies, die sie stabil aufliegen lassen konnten, stellte ein spielendes Mädchen dar. Das Kind stand auf einem Bein, hatte das andere angewinkelt, wie um einen Schritt zu tun, und hielt die rechte Hand in Kopfhöhe. Senkrecht darunter befand sich eine Mutter auf der Bodenplatte, die dort keinen sichtbaren Sinn erfüllte.
    Die unnütze Mutter irritierte Fanni. So waren die Schraubenmännchen nicht konzipiert. An ihnen war alles funktionell, spitzfindig ausgeklügelt.
    Sie richtete die Figur auf, und nun wirkte die Szenerie klarer: ein Kind, das etwas auf den Boden prallen ließ, während es lief. Aber was bloß? Sollte diese Mutter auf der Bodenplatte einen Ball darstellen?
    Fanni schüttelte den Kopf. So dilettantisch waren Schraubenmännchen nicht gemacht. Und in jeder anderen Hinsicht wies gerade dieses außergewöhnlich große Exemplar enorme Sorgfalt im Detail auf: Das Mädchen trug eine Mütze mit winzigen Muttern als Troddeln, und eine Blume reckte ihre Knospen aus klitzekleinen Stummelschräubchen empor. Die Schraubenfinger der linken Hand des Kindes waren gespreizt, als wollten sie versuchen, dessen Konzentration und Balance zu unterstützen.
    Fanni kniff die Augen zusammen und studierte die beziehungslose Mutter. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie hochkant stand, als sollte sie ein Rad darstellen (das die Bodenplatte jedoch nicht berührte, sondern durch einen schmalen Steg mit ihr verbunden war), und dass an der Lauffläche Rillen eingefräst waren. Fannis Blick eilte etliche Male zwischen der gerillten Mutter und der erhobenen Hand des Mädchens hin und her.
    Das Kind spielt eindeutig mit einem Jojo!
    So ist es, dachte Fanni. Dazu passt die Gebärde, und damit fügt sich die gerillte Mutter ins Bild. Aber wo befindet sich der Faden, der sich im Gehäuse des Jojos aufwickeln soll? Bei all dieser Detailtreue muss er vorhanden gewesen sein. Vermutlich als Drahtstück, das von der Hand des Kindes zu der Rillenmutter geführt hat.
    »Hier ist die Null-Null gewählt worden. Was ist passiert?«
    Fanni fuhr herum und presste unwillkürlich die blutende Hand auf ihre Brust. Wie hatte sie sich bloß mit einem Schraubenmännchen beschäftigen können, während …
    »Um Himmels willen, Frau Bogner!«
    Die Person, die in der Tür erschienen war – es handelte sich um die recht resolute Schwester Rosa –, eilte auf die tote Therapeutin zu. Sie drängte Alexander zur Seite, als wäre er ein unbrauchbares Requisit, und legte Marita Bogner zwei Finger an die Halsschlagader.
    Fanni bemerkte, dass Alexander zum Reden ansetzte. Eine Frau zwischen vierzig und fünfzig hatte das Zimmer betreten. Es war nicht schwer zu erraten, was er sie fragen wollte.
    Mit einem schnellen Schritt trat Fanni zu ihm und packte ihn am Arm, um ihn mit sich aus dem Zimmer zu zerren. Sie war darauf vorbereitet, ihre ganze Kraft dafür aufwenden zu müssen, stellte jedoch schon nach wenigen Schritten fest, dass er sich nachziehen ließ wie eines dieser Spielzeugtiere auf Rädern.
    Hat Leni nicht als Kind eine Rollschildkröte besessen?
    Fanni versuchte, die sinnlos plappernde Gedankenstimme auszublenden, während sie Alexander den Flur hinuntersteuerte. Am Fuß der Treppe, die zu den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher