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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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bestaunte meinen Totengräberanzug. Nur gut, dass mein Bruder so viel LSD geschluckt hatte. Pleitegeier hatte sich schon früh für Bewusstseinserweiterung interessiert. Er meditierte über den Schleier der Maja, die Existenz verschiedener Seinsebenen. Eine solcherart vorbereitete Persönlichkeit kam etwas leichter damit zurecht, dass die eigene Schwester zum Bruder wurde. Hermaphroditen wie mich hat es seit Anbeginn der Welt gegeben. Aber als ich aus meinem Pferch heraustrat, war möglicherweise keine andere Generation als die meines Bruders besser befähigt, mich zu akzeptieren. Dennoch war es nicht nichts, mich so verändert vor sich zu haben. Pleitegeiers Augen weiteten sich.
    Wir hatten einander über ein Jahr nicht gesehen. Auch Pleitegeier hatte sich verändert. Seine Haare waren kürzer. Ihr Ansatz hatte sich nach hinten verschoben. Die Freundin eines Freundes hatte ihm privat eine Dauerwelle verpasst. Pleitegeiers vordem glatte Haare liefen nun im Nacken zu einer Löwenmähne aus, vorn wichen sie zurück. Er sah nicht mehr aus wie John Lennon. Seine ausgebleichten Bellbottoms, seine Nickelbrille, verschwunden. Jetzt trug er braune Hüfthosen. Sein Hemd mit dem breiten Kragen schimmerte im Neonlicht. Die Sechziger sind nie so recht zu Ende gegangen. Sie setzen sich heute in Goa fort. Aber 1975 waren sie für meinen Bruder Vergangenheit.
    Zu jeder anderen Zeit hätten wir uns über all das unterhalten. Aber den Luxus hatten wir jetzt nicht. Ich durchquerte den Raum. Pleitegeier stand auf, und dann umarmten wir einander schwankend. »Dad ist tot«, wiederholte mein Bruder an meinem Ohr. »Er ist tot.«
    Ich fragte ihn, was passiert sei, und er erzählte es mir. Milton war durch den Zoll gerast. Auch Father Mike war auf der Brücke gewesen. Er lag jetzt im Krankenhaus. Im Wrack des Gremlins hatte man Miltons alte Aktentasche gefunden, voller Geld. Father Mike hatte der Polizei alles gestanden, den Entführungstrick, das mit dem Lösegeld.
    Als ich das verdaut hatte, fragte ich: »Wie geht's Mom?«
    »Ganz gut. Sie hält sich wacker. Sie ist sauer auf Milt.«
    »Sauer?«
    »Weil er da hingefahren ist. Weil er ihr nichts gesagt hat. Sie ist froh, dass du nach Hause kommst. Das ist für sie jetzt das Wichtigste. Du kommst rechtzeitig zur Beerdigung. Und das ist gut so.«
    Wir hatten Plätze für die Nachtmaschine. Die Beerdigung sollte am nächsten Vormittag sein. Pleitegeier hatte den bürokratischen Teil der Angelegenheit erledigt, hatte den Totenschein besorgt, die Anzeige geschaltet. Er fragte mich nicht nach meiner Zeit in San Francisco oder im Sixty-Niners. Erst als wir im Flugzeug saßen und Pleitegeier einige Bier getrunken hatte, sprach er mich auf meinen Zustand an. »Dann kann ich jetzt also nicht mehr Callie zu dir sagen.«
    »Sag, was du willst.«
    »Wie war's mit ›Brudi‹?«
    »Ist mir recht.«
    Er verstummte, blinzelte. Es verging die übliche Zeit, in der er nachdachte. »Ich hab nie richtig mitgekriegt, was da in dieser Klinik passiert ist. Ich war ja in Marquette. Da hab ich mit Mom und Dad nicht besonders viel geredet.«
    »Ich bin weggelaufen.«
    »Warum?«
    »Die wollten mich aufschneiden.«
    Ich spürte, wie er mich anstarrte, hinter jenem Firnis, der eine beträchtliche geistige Anstrengung verbarg. »Das klingt für mich alles ein bisschen seltsam«, sagte er.
    »Für mich auch.«
    Gleich darauf stieß er ein Lachen aus. »Ha! Seltsam! Ganz schön verdammt seltsam.«
    Ich schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf. »Das kannst du laut sagen. Brudi.«
    Mit dem Unmöglichen konfrontiert, gab es keine andere Wahl, als es normal zu finden. Wir hatten, wenn man so will, kein oberes Register, sondern nur die mittlere Tonlage unserer gemeinsamen Erfahrungen und Verhaltensweisen und Albereien. Aber das half uns darüber hinweg.
    »Ein Gutes hat dieses Gen allerdings«, sagte ich.
    »Was?«
    »Ich kriege nie eine Glatze.«
    »Warum nicht?«
    »Um eine Glatze zu kriegen, braucht man DHT.«
    »Huch«, sagte Pleitegeier und fasste sich an die Kopfhaut.
    »Ich schätze mal, ich hab ein bisschen zu viel DHT. Das nennt man dann wohl DHT-gesättigt.«
    Kurz nach sechs Uhr morgens erreichten wir Detroit. Der zertrümmerte Eldorado war auf ein Polizeigelände geschleppt worden. Auf dem Parkplatz des Flughafens stand der Wagen unserer Mutter, der »Florida Special«. Der zitronenfarbene Cadillac war alles, was uns von Milton geblieben war. Er befand sich auf dem besten Wege, zu einer Reliquie zu
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