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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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schöpferischen Energie meiner Heimatstadt. Ich freute mich, ihn zu sehen. Ich konnte den Blick nicht von ihm lösen.
    Als ich klein war, zogen Straßeneckentypen wie er manchmal die Sonnenbrille auf die Nase, um mir zuzuzwinkern, weil sie das weiße Mädchen, das da auf dem Rücksitz vorbeifuhr, zu einem Augenaufschlag veranlassen wollten. Doch der Typ dort sah mich völlig anders an. Er zog die Sonnenbrille nicht herab, dafür signalisierten sein Mund, seine bebenden Nasenflügel und der gesenkte Kopf Trotz, ja sogar Hass. Und in dem Moment begriff ich etwas. Ich konnte nicht zum Mann werden, ohne zum weißen Mann zu werden. Ob ich es wollte oder nicht.
    Pleitegeier fuhr mich auch durchs Indian Village, vorbei an unserem alten Haus. Ich wollte in Nostalgie baden, um vor dem Wiedersehen mit meiner Mutter meine Nerven zu beruhigen. Die Straßen waren noch immer von Bäumen gesäumt, jetzt waren sie winterkahl, sodass wir bis zum zugefrorenen Fluss sehen konnten. Ich dachte, wie erstaunlich es doch war, dass die Welt so viele Leben enthielt. Die Leute auf den Straßen waren in tausend Dinge verstrickt, Geldprobleme, Liebespro bleme, Schulprobleme. Sie verliebten sich, heirateten, gingen zur Drogenrehabilitation, lernten Schlittschuh laufen, bekamen eine Bifokalbrille, büffelten für Examen, probierten Kleider an, ließen sich die Haare schneiden, wurden geboren. Und in manchen Häusern wurden sie alt und krank und lagen im Sterben, hinterließen Trauernde. Das alles geschah unablässig, unbemerkt, aber nur das zählte. Was im Leben wirklich zählte, was ihm sein Gewicht gab, war der Tod. So gesehen war meine Körpermetamorphose ein unbedeutendes Ereignis. Nur der Zuhälter hätte sich vielleicht dafür interessiert.
    Bald erreichten wir Grosse Pointe. Die nackten Ulmen griffen von beiden Seiten über unsere Straße, berührten sich an den Fingerspitzen, und auf den Blumenbeeten vor den warmen Häusern in ihrem Winterschlaf lag krustiger Schnee. Mein Körper reagierte auf den Anblick unseres Hauses. Glücksfunken sprühten in mir auf. Es war ein hündisches Gefühl, reich an eifernder Liebe und ohne Worte für das Tragische. Hier war mein Zuhause, die Middlesex. Dort oben in dem Fenster auf der gefliesten Fensterbank hatte ich stundenlang gelesen und dabei Maulbeeren von dem davorstehenden Baum gezupft.
    Die Zufahrt war nicht freigeschaufelt. Niemand hatte Zeit dafür gehabt. Pleitegeier nahm die Zufahrt ein wenig zu schnell, und wir hüpften auf unseren Sitzen, das Auspuffrohr schlug auf. Nachdem wir ausgestiegen waren, öffnete er den Kofferraum und ging mit meinem Koffer zum Haus. Aber auf halbem Weg blieb er stehen. »He, Brudi«, sagte er. »Den kannst du jetzt ja selber tragen.« Er lächelte boshaft. Man sah, dass ihm der Paradigmenwechsel gefiel. Er verstand meine Metamorphose als Denksportaufgabe, wie die im hinteren Teil seiner Sciencefiction-Magazine.
    »Nun übertreib mal nicht gleich«, antwortete ich. »Du darfst mein Gepäck tragen, jederzeit.«
    »Fang!«, schrie Pleitegeier und schleuderte den Koffer zu mir hin. Zurücktaumelnd fing ich ihn. Genau in dem Augenblick ging die Haustür auf, und meine Mutter trat in Hauspantoffeln in die frostpudrige Luft.
    Tessie Stephanides, die in einem anderen Lebensabschnitt, als Weltraumflüge noch neu gewesen waren, beschlossen hatte, ihrem Mann nachzugeben und mit unlauteren Mitteln ein Mädchen zu erschaffen, sah nun vor sich auf der einge schneiten Zufahrt die Frucht dieses Plans. Keine Tochter mehr, sondern, wenigstens dem Aussehen nach, ein Sohn. Sie war müde und bekümmert und war dieser neuen Wendung nicht gewachsen. Es war nicht hinnehmbar, dass ich nun als männliche Person lebte. Tessie fand nicht, dass dies mir überlassen bleiben sollte. Sie hatte mich geboren und gestillt und aufgezogen. Sie hatte mich gekannt, bevor ich mich selbst gekannt hatte, und nun sollte sie in dieser Angelegenheit nichts mehr zu sagen haben? Das Leben fing an, bog plötzlich um eine Ecke und wurde anders. Tessie wusste nicht, wie das passiert war. Zwar konnte sie in meinem Gesicht noch immer Calliope sehen, aber jeder Zug wirkte verwandelt, fülliger, und auf meinem Kinn und über der Oberlippe sprossen Barthaare. In Tessies Augen hatte meine Erscheinung etwas Kriminelles. Sie dachte, dass meine Rückkehr Teil einer großen Abrechnung war, dass jemand Milton bestraft hatte und ihre Strafe gerade erst begann. Aus allen diesen Gründen stand sie versteinert, mit roten Augen, in
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