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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Blick verschwunden war. Aber das war Absicht. Ich gestattete Desdemona, aus der Erzählung zu entwischen, weil sie, ehrlich gesagt, in den bewegten Jahren meiner Verwandlung die meiste Zeit auch meiner Aufmerksamkeit entwischt war. Seit mittlerweile fünf Jahren lag sie im Gästehaus im Bett. Während meiner Zeit an der Baker & Inglis, als ich mich in das Objekt verliebte, hatte meine Großmutter nur am äußersten Rand meines Bewusstseins existiert. Ich sah, wie Tessie ihr Mahlzeiten zubereitete und Tabletts ins Gästehaus trug. Jeden Abend sah ich meinen Vater mit Wärmflaschen und Medikamenten nachschub seinen Pflichtbesuch erledigen. Damals sprach Milton mit seiner Mutter Griechisch, mit wachsenden Schwierigkeiten. In den Kriegsjahren hatte Desdemona es nicht vermocht, ihrem Sohn beizubringen, auf Griechisch zu schreiben. Nun, im Alter, nahm sie entsetzt zur Kenntnis, dass er auch noch das Sprechen verlernte. Gelegentlich brachte ich Desdemona die Tabletts und machte mich für ein paar Minuten wieder mit ihrem Leben in der Zeitkapsel vertraut. Das gerahmte Foto von ihrer Grabstätte stand zur Beruhigung weiterhin auf ihrem Nachttisch.
    Tessie ging zur Sprechanlage. »Ja, jiajia«, sagte sie.
    »Brauchst du etwas?«
    »Meine Füße sind so schrecklich heute. Hast du die Bittersalz?«
    »Ja. Ich bring's dir.«
    »Warum Gott lässt jiajia nicht sterben, Tessie? Alle sind tot! Alle, bloß nicht jiajial . Jiajia doch jetzt ist zu alt zum Leben. Und was tut Gott? Nichts.«
    »Bist du fertig mit deinem Frühstück?«
    »Ja, danke, Schätzchen. Aber die Pflaumen, die nicht waren gut heute.«
    »Es sind die gleichen Pflaumen wie immer.«
    »Vielleicht was ist passiert damit. Hol mir bitte ein neue Schachtel, Tessie. Die Sunkist.«
    »Mach ich.«
    »Okay, Schätzchen-mow. Danke, mein Schätzchen.«
    Meine Mutter schaltete die Anlage ab und wandte sich zu mir.
    »Jiajia geht's nicht mehr so gut. Ihr Verstand lässt nach. Nach deinem Verschwinden ist es richtig bergab mit ihr gegangen. Wir haben ihr von Milt erzählt.« Tessie stockte, den Tränen nahe. »Was vorgefallen ist. Jiajia hat nur noch geweint. Ich hab gedacht, jetzt stirbt sie auf der Stelle. Und ein paar Stunden später fragt sie mich, wo Milt ist. Sie hatte die ganze Sache schon vergessen. Vielleicht ist es ja besser so.«
    »Kommt sie zur Beerdigung mit?«
    »Sie kann ja kaum noch gehen. Mrs. Papanikolas sieht nach ihr. Die halbe Zeit weiß sie nicht, wo sie ist.« Tessie schüttelte den Kopf, lächelte traurig. »Wer hätte gedacht, dass sie Milt überlebt?« Wieder kamen ihr die Tränen, und sie kämpfte sie zurück.
    »Kann ich zu ihr?«
    »Möchtest du denn?«
    »Ja.«
    Tessie machte ein ängstliches Gesicht. »Und was sagst du ihr?«
    »Was meinst du?«
    Ein paar Sekunden schwieg meine Mutter, überlegte. Dann sagte sie achselzuckend: »Es bleibt sich gleich. Sie wird sich ohnehin an nichts erinnern können. Bring ihr das. Sie will sich damit die Füße baden.«
    Das Bittersalz und ein Stück in Zellophan gewickeltes Baklava in der Hand, verließ ich das Haus und ging den Portikus entlang, vorbei an Garten und Badehaus, zum Gästehaus dahinter. Die Tür war unverriegelt. Ich öffnete sie und trat ein. Das einzige Licht im Raum kam vom Fernseher, der sehr laut gestellt war. Dem Eingang gegenüber hing das alte Porträt des Patriarchen Athenagoras, das Desdemona Jahre zuvor bei der Haushaltsauflösung gerettet hatte. In einem Vogelkäfig am Fenster hüpfte ein grüner Sittich, der letzte Überlebende aus dem früheren Aviarium meiner Großeltern, auf seiner Balsaholzstange hin und her. Noch weitere vertraute Dinge und Einrichtungsgegenstände waren zu sehen, Leftys Rembetika- Platten, der Messingcouchtisch und natürlich die Seidenraupen kiste, die mitten auf dessen gravierter, kreisrunder Platte stand. Die Kiste war nun so voll gestopft mit Erinnerungsstücken, dass sie sich gar nicht mehr schließen ließ. Schnappschüsse waren darin, alte Briefe, kostbare Knöpfe, die Betperlen. Irgendwo unter alldem lagen, das wusste ich, zwei lange, mit bröckelnden schwarzen Bändern zusammengebundene Haarzöpfe und eine aus Schiffstau gefertigte Hochzeitskrone. Das alles wollte ich mir ansehen, doch als ich weiter ins Zimmer ging, wurde meine Aufmerksamkeit von dem imposanten Anblick auf dem Bett gefesselt.
    Wie eine Königin war Desdemona an einem braunen Kordkissen, »Ehemann« genannt, aufgebettet. Die Arme dieses Kissens umfingen sie. Aus der elastischen
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