Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
Vom Netzwerk:
machen«, jammerte sie auf dem Weg.
    »Ich bin zu alt, Schätzchen.«
    »Das geht doch prima.«
    »Nein, ich mich an nichts mehr erinnere. Ich hab Schmerzen und Leiden. Mein Herz nicht mehr gut.«
    Wir hatten inzwischen den Stuhl erreicht. Es gelang mir, mich hinter sie zu stellen, um sie darauf niederzulassen. Dann ging ich wieder um sie herum und hob ihre angeschwollenen, blau geäderten Füße in das schaumige Wasser. Desdemona murmelte vor Vergnügen. Sie schloss die Augen.
    Während der nächsten Minuten schwieg Desdemona, genoss das warme Fußbad. Die Farbe kehrte in ihre Knöchel zurück und stieg ihre Beine hinauf. Das Rosarot verschwand unter dem Saum ihres Nachthemds, lugte aber eine Minute später aus dem Kragen hervor. Die Röte breitete sich über ihrem Gesicht aus, und als sie die Augen öffnete, herrschte eine Klarheit darin, die zuvor nicht dagewesen war. Sie schaute mir mitten ins Gesicht. Und dann rief sie: »Calliope!«
    Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Mana! Was ist passiert mit dir?«
    »Ich bin erwachsen geworden.« Mehr sagte ich nicht. Ich hatte nicht vorgehabt, es ihr zu sagen, aber nun war es heraus. Ich hatte das Gefühl, dass es egal war. Sie würde sich das Gespräch nicht merken.
    Sie sah mich noch immer prüfend an; die Brillengläser vergrößerten ihre Augen. Selbst wenn sie noch ganz bei Sinnen gewesen wäre, hätte Desdemona unmöglich erfassen können, was ich sagte. Doch in ihrer Senilität brachte sie die Information irgendwie unter. Sie lebte nun in Erinnerungen und Träumen, und in diesem Zustand wuchsen ihr wieder die alten Dorfgeschichten zu.
    »Du bist jetzt ein Junge, Calliope?«
    »Mehr oder weniger.«
    Sie ließ es sacken. »Meine Mutter, sie mir hat immer komische Sachen erzählt«, sagte sie. »Vor langer Zeit hat im Dorf kleine Kinder gegeben, die haben ausgesehen wie Mädchen. Dann - fünfzehn, sechzehn - sehen aus wie Jungen! Meine Mutter mir erzählt immer, aber ich hab nicht geglaubt.«
    »Das ist was Genetisches. Der Arzt, bei dem ich war, hat gesagt, das kommt in kleinen Dörfern manchmal vor. Wo alle einander heiraten.«
    »Dr. Phil auch mal hat so was gesagt.«
    »Wirklich?«
    »Ist alles meine Schuld.« Grimmig schüttelte sie den Kopf.
    »Was denn? Was war deine Schuld?«
    Sie weinte nicht richtig. Ihre Tränenkanäle waren versiegt, keine Feuchtigkeit lief ihr über die Wangen. Aber ihre Mimik sprach Bände, und ihre Schultern bebten.
    »Die Priester sagen, nicht mal Cousin und Cousine erste Grad sollen heiraten«, sagte sie. »Zweite Grad ist okay, aber muss erst den Erzbischof fragen.« Sie wandte nun den Blick ab, versuchte, sich an alles zu erinnern. »Nicht mal, wenn du den Sohn von deine Paten heiraten willst, das geht. Ich hab gedacht, das bloß was ist für die Kirche. Ich hab nicht gewusst, es ist wegen die Kinder. Ich war bloß dumme Mädchen aus dem Dorf.« So redete sie noch eine Weile, klagte sich an. Sie hatte vorübergehend vergessen, dass ich bei ihr war oder dass sie laut sprach. »Und dann mir sagt Dr. Phil schlimme Sachen. Ich mich hab so gefürchtet, ich mich hab operieren lassen! Keine Kinder mehr. Dann Milton kriegt Kinder, und wieder ich mich hab gefürchtet. Aber nichts passiert. Also denk ich, nach so langer Zeit ist alles okay.«
    »Was sagst du da, jiajia? Papou war dein Vetter?«
    »Dritte Grad.«
    »Das ist doch in Ordnung.«
    »Nicht bloß Vetter. Auch Bruder.«
    Mein Herz machte einen Sprung. »Papou war dein Bruder?«
    »Ja, Schätzchen«, sagte Desdemona mit unendlicher Müdigkeit. »Vor langer Zeit. In eine andere Land.« Da meldete sich die Sprechanlage:
    »Callie?« Tessie hüstelte, verbesserte sich: »Cal?«
    »Ja.«
    »Mach dich mal fertig jetzt. In zehn Minuten kommt der Wagen.«
    »Ich geh nicht mit.« Ich stockte. »Ich bleib hier bei jiajia.«
    »Du sollst aber mit, Liebes«, sagte Tessie.
    Ich ging zur Sprechanlage, legte den Mund ans Mikrophon und sagte mit tiefer Stimme: »Ich geh doch nicht in die Kirche da.«
    »Warum nicht?«
    »Hast du gesehen, was die für ihre verdammten Kerzen verlangen?«
    Tessie lachte. Das brauchte sie. Also fuhr ich fort, so zu reden, verstellte meine Stimme, sodass sie tief wie die meines Vaters klang. »Zwei Kröten für eine Kerze? Der reinste Schwindel! Vielleicht könntest du ja einen aus dem alten Land dazu kriegen, für so was Geld auszuspucken, aber doch nicht hier in den USA!«
    Es war ansteckend, Milton nachzuahmen. Tessie verstellte nun ebenfalls die Stimme. »Totaler
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher