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Middlesex

Middlesex

Titel: Middlesex
Autoren: Jeffrey Eugenides
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der Tür.
    »Hallo, Mom«, sagte ich. »Da bin ich.«
    Ich ging zu ihr. Ich stellte meinen Koffer ab, und als ich wieder aufblickte, hatte sich Tessies Gesicht verändert. Monatelang hatte sie sich auf diesen Augenblick vorbereitet. Nun hoben sich ihre zarten Augenbrauen, die Mundwinkel bogen sich aufwärts und kräuselten die blassen Wangen. Ihr Gesichtsausdruck war der einer Mutter, die einem Arzt dabei zusieht, wie er ihrem stark verbrannten Kind den Verband abnimmt. Ein optimistisches, unehrliches Bettkantengesicht. Dennoch sagte es mir, was ich zu wissen brauchte. Tessie würde versuchen, die Dinge zu akzeptieren. Sie war von dem, was mir widerfahren war, zerschmettert, aber um meinetwillen würde sie es ertragen.
    Wir umarmten uns. Groß, wie ich war, legte ich meiner Mutter den Kopf an die Schulter, und sie strich mir, dem Schluchzenden, übers Haar.
    »Warum?«, stieß sie immerzu kopfschüttelnd hervor.
    »Warum?« Ich glaubte, sie meine Milton. Aber dann wurde sie deutlich: »Warum bist du nur weggelaufen, mein Herz?«
    »Es ging nicht anders.«
    »Glaubst du nicht, es wäre einfacher gewesen, so zu bleiben, wie du warst?«
    Ich hob das Gesicht und sah meiner Mutter in die Augen. Und ich sagte zu ihr: »Aber so war ich doch immer.«
    Sie werden wissen wollen: Wie gewöhnten wir uns daran? Was geschah mit unseren Erinnerungen? Musste Calliope sterben, um Raum für Cal zu schaffen? Auf alle diese Fragen antworte ich mit demselben Gemeinplatz: Es ist erstaunlich, woran man sich gewöhnen kann. Nachdem ich aus San Francisco zurückgekehrt war und begonnen hatte, als Mann zu leben, fand meine Familie, dass das Geschlecht, entgegen der allgemeinen Ansicht, gar nicht so wichtig war. Mein Wechsel vom Mädchen zum Jungen war weit weniger dramatisch als die Entfernung, die jeder von der Kindheit zum Erwachsensein zurücklegt. Im Großen und Ganzen blieb ich der Mensch, der ich immer gewesen war. Noch jetzt bin ich, obwohl ich das Leben eines Mannes führe, in wesentlichen Punkten Tessies Tochter. Ich bin es weiterhin, der daran denkt, sie jeden Sonntag anzurufen. Ich bin es, dem sie ihre länger werdende Leidensliste anvertraut. Wie jede gute Tochter werde ich es sein, der sie im Alter einmal pflegt. Wir erörtern noch immer, was uns an den Männern nicht gefällt; noch immer lassen wir uns, wenn ich sie besuche, gemeinsam die Haare richten. Dem Wandel der Zeit gehorchend, schneidet das Golden Fleece nun auch Männern die Haare. (Und endlich darf die gute alte Sophie mir den Kurzhaarschnitt verpassen, wie sie es immer wollte.)
    Aber das alles kam später. Im Augenblick hatten wir es erst einmal eilig. Es war beinahe zehn. In fünfunddreißig Minuten sollte der Wagen vom Bestattungsinstitut eintreffen. »Bring dich mal schnell in Ordnung«, sagte Tessie zu mir. Die Beerdigung tat, was Beerdigungen tun sollen: Sie ließ uns nicht die Zeit, bei unseren Gefühlen zu verweilen. Tessie hakte sich bei mir unter und führte mich ins Haus. Auch die Middlesex trug Trauer. Der Spiegel im Arbeitszimmer war mit einem schwarzen Tuch verhängt. An den Schiebetüren hingen schwarze Bänder. Alles alte Einwanderergesten. Insgesamt wirkte das Haus unnatürlich still und düster. Wie immer brachten die riesigen Fenster das Draußen herein, so dass im Wohnzimmer Winter war; um uns herum lag Schnee.
    »Den Anzug kannst du eigentlich anbehalten«, sagte Pleitegeier zu mir. »Ist doch ganz passend.«
    »Wahrscheinlich hast du nicht mal einen.«
    »Stimmt. Ich war ja auch nicht an einer affigen Privatschule. Wo hast du das Teil überhaupt her? Es stinkt.«
    »Wenigstens ist es ein Anzug.«
    Tessie gab genau Acht, wie mein Bruder und ich einander aufzogen. Sie registrierte anhand der Zeichen meines Bruders, dass das, was mir widerfahren war, leicht genommen werden konnte. Sie war nicht sicher, ob auch ihr das gelingen würde, aber die Art, wie die jüngere Generation damit umging, interessierte sie.
    Plötzlich war da ein seltsames Geräusch, ähnlich einem Adlerschrei. Die Sprechanlage im Wohnzimmer knisterte. Eine Stimme kreischte: »Juhuu! Tessie-Schätzchen!«
    Die Einwanderergesten waren natürlich nicht Tessies wegen überall im Haus. Die Person, die durch die Sprechanlage kreischte, war niemand anderes als Desdemona.
    Geduldiger Leser, Sie werden sich schon gefragt haben, was aus meiner Großmutter geworden ist. Es wird Ihnen aufgefallen sein, dass Desdemona, kurz nachdem sie sich auf immer ins Bett begeben hatte, allmählich aus dem
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