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Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Messias-Maschine: Roman (German Edition)

Titel: Messias-Maschine: Roman (German Edition)
Autoren: Chris Beckett
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tief in die hochinteressanten Übungsaufgaben, mit denen man uns versorgt hatte.

    Tony hingegen tat nicht einmal so, als würde das, was die Regierung für uns vorbereitet hatte, ihn auch nur im Ansatz interessieren. Stattdessen plauderte er mit Marija. Ich hörte zu und war fasziniert davon, wie leicht es ihm zu fallen schien.
    Ich erfuhr, dass Marija im Alter von elf Jahren aus Neuseeland nach Illyrien gekommen war, als schließlich auch ihre Heimat wie alle anderen Industrienationen von der Reaktion verschlungen worden war. Für ihre Familie war der Umzug ans Mittelmeer eine Rückkehr. Eine Generation zuvor waren sie dort hergekommen.
    Sie war ihre Arbeit bei der ICC leid und unzufrieden mit den begrenzten Möglichkeiten, die einem in der kleinen Blase, die wir Illyrier bewohnten, zur Verfügung standen. Kürzlich war sie der Holistischen Liga beigetreten.
    »Warum?«, fragte Tony, dessen Lebenszweck es im Großen und Ganzen war, sich zu vergnügen.
    »Als Illyrien gegründet wurde, war es ein offenherzigerer Ort«, erwiderte sie. »Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, dass es sich zum Spiegelbild der Länder entwickelt, vor denen es Zuflucht bieten sollte. Der Leuchtturm zum Beispiel sollte die Macht des freien Denkens symbolisieren. Und trotzdem sind jetzt alle möglichen Gedanken verboten – selbst die Liga hat man bedroht.«
    Tony zuckte mit den Schultern. Resigniert wandte er sich unserer Aufgabe zu, nachdem er zu dem Schluss gelangt war, dass Marija zwar hübsch, aber langweilig war.
    Doch ich war neugierig. Ich hatte den Leuchtturm immer geliebt, seit ich ihn als Kind zusammen mit meinem Vater besucht hatte. Ich wusste noch, wie ich einmal bei ihm übernachtet hatte (ich glaube, Ruth musste aus irgendeinem Grund ins Krankenhaus oder so) und wir nach Einbruch der Dunkelheit ganz oben auf den Leuchtturm gestiegen waren. So viel von der Welt hatte ich noch nie zuvor gesehen: die dunkle See im Westen, mit phosphoreszierenden Klecksen und den winzigen Lichtern der Schiffe und Fischerboote darauf, die hell erleuchtete Stadt mit all ihren blinkenden Werbetafeln unter uns, und jenseits der Stadt, tief in den Bergen Zagoriens und entlang der Küste die kleinen gelben Lichter der Orte im Umland hinter der Grenze – in Griechenland und Albanien, in der Walachei und Slawonien.
    »Und denkt bloß mal daran, wie wir uns jeden Abend den alten Ullman ansehen sollen, wie er diese Tonfigur zerbröselt«, sagte Marija. »Ich meine, was sagt das denn bitte über diese Stadt aus?«
    »Hast du jemals ausprobiert, es dir rückwärts anzusehen?«, schaltete ich mich plötzlich zu meiner eigenen Überraschung ein.
    »Nein, habe ich nicht«, antwortete Marija und sah mich aus leuchtenden, interessierten Augen an.
    Mit zunehmender Unsicherheit erzählte ich ihr von meinem Erlebnis: wie ich zugeschaut hatte, wie sich das Bildnis eines Menschen in Ullmans gottgleicher Hand aus dem Staub zusammengesetzt hatte.
    »Es ist, als ob …« (Am Ende meines ungewohnt langen Vortrags geriet ich ins Stocken.) »Es ist, als ob die Art, in der man die Welt wahrnimmt, davon abhängt, aus welcher Richtung man sich ihr annähert …«
    »Genau!«, rief Marija. »Genau!«
    Tony lachte. Als es Zeit war, zu gehen, schrieb Marija mir den Termin des nächsten Treffens der Liga auf.
    »Du liegst gut im Rennen, George«, meinte Tony zu mir, nachdem Marija sich verabschiedet hatte. »Wenn du dein Blatt richtig spielst, dann könnt ihr beiden euch bald vielleicht regelmäßig treffen, um über den Sinn des Lebens zu diskutieren.«

    Draußen brach die Nacht herein, und im Leuchtturm, der tagsüber silbrig schimmerte, gingen die Lichter an, so dass man sein ausgeklügeltes Innenleben erkennen konnte. Es war wie bei einem dieser durchsichtigen Wasserbewohner, deren Herz man unterm Mikroskop schlagen und durch deren Eingeweide man die Nahrung strömen sah. Gigantisch und doch wie schwerelos schwebte er über seinem eigenen Spiegelbild. Die Menschen gingen ein und aus, hoch und runter, um den Turm herum und hindurch wie Ameisen im Bau: auf Treppen, Balustraden, Stegen, in Aufzügen. Hoch oben fuhren die Leute in den Riesenrädern, die sich an der kugelförmigen Spitze des Leuchtturms drehten.
    Ich trat ans Geländer. Das Meer schwappte sanft über die Steine. An einem Fahnenmast über mir flatterte das Auge Illyriens in einer leichten Brise.
    Machte Tony Witze, oder glaubte er wirklich, dass jemand wie Marija an jemandem wie mir interessiert sein
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