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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit
Autoren: Ilse Rothfuss
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nimmst die Karten, die dir gegeben werden, und du spielst sie aus. Du nimmst sie, wie sie kommen, und du spielst.“
    „Wähle“, sagt Azrael leise, unversöhnlich.
    Ich richte meine brennenden Augen auf ihn.
    „Dann, vor Gott“, schreie ich, „vor allen, die hier versammelt sind, weise ich euch alle zurück!“ Ich wende mich an Luc: „Dich, Luzifer, aus tiefstem Herzen!“, fauche ich. „Und dich, Michael, wegen deiner Unbeugsamkeit. Weil du nicht wahrhaben willst, dass nicht alles vorherbestimmt ist. Und auch dich, Azrael: Ich weise den Tod zurück. Ich will nicht Partei ergreifen. Ich wähle ihn, Ryan, und ein Leben in Einfachheit und Güte, das niemandem schadet. Das wähle ich.“
    Azrael kniet nieder und nimmt mir Ryan aus den Armen, und ich kann ihn nicht halten, obwohl ich flehend die Hände nach ihm ausstrecke.
    Ryans Atem geht schnell und unregelmäßig, seine Augen versuchen meine festzuhalten, während der große Tod auf ihn hinunterlächelt, ihm sein herrliches Antlitz zeigt.
    Azrael legt seine Hand auf die Stelle, an der Luzifer Ryan verwundet hat. Ohne mich anzusehen, sagt er leise: „Ist das dein letztes Wort?“
    „Ja“, schluchze ich, „das wähle ich und nichts anderes.“ Und endlich verstehe ich das Geschenk, das er mir gemacht hat.
    „Dann erhebe dich, Mercy“, sagt Azrael und blickt zu mir auf, während seine Hand noch immer auf Ryan ruht. „Und trage die Folgen deiner Entscheidung.“
    Und plötzlich überwältigt mich die Freude, als ich verstehe, was er sagen will. Denn der Tod kniet vor mir nieder, hier auf diesem kalten Betonboden.
    Ich erinnere mich an den Augenblick, als ich versuchte, Karen Neill von ihrem Krebs zu heilen und Lela im Green Lantern vor dem Verbluten zu bewahren. Als ich Ryans Seele durch die Labyrinthe seines sterbenden Körpers gefolgt bin und Irinas Seele dem Fegefeuer entrissen habe, in das Luc sie gestoßen hatte.
    Eine allerletzte Verwandlung. Und niemand hier außer dem Tod versteht die Wahl, die ich treffe.
    Azraels blaue Augen begegnen meinen. Er nimmt meine brennende linke Hand, ehe Luc sich auf mich stürzen oder Gabriel einschreiten kann.
    Ich stoße einen markerschütternden Schrei aus, als Azraels Wille durch mich hindurchfegt wie der Atem eines heiligen Feuers.
    Und dann strömt Licht in Wellen aus mir. Ich kann nicht mehr oben von unten unterscheiden, nehme weder Ort noch Zeit wahr. Ich bin die Welt, und die Welt ist in mir, und mir ist, als würden sich Erdplatten in mir verschieben oder Eisberge zerbersten. Ich spüre Trennung, Auflösung, Umgestaltung, Wandlung, ein Losketten.
    Azrael lässt meine Hand los und ich schaue staunend auf meine zitternden Finger. Meine Haut ist matt, glanzlos. Das Flammenmal ist verschwunden, wird nie wiederkehren.
    Azrael legt Ryans Kopf behutsam auf den Boden und Ryan blinzelt zu uns hoch, weiß nicht, ob das ein Traum oder Wirklichkeit oder das Jenseits ist.
    Der Erzengel des Todes erhebt sich und wirft einen herausfordernden Blick in die Runde. „Meine Berührung kann beides bedeuten – Tod oder Leben“, verkündet er.
    Dann dreht er sich zu mir um, durchbohrt mich mit seinem Blick: „Ich habe ihn dir gegeben, weil deine Wahl gerecht war und mit Bedacht getroffen. Fortan bist du, was du sein wolltest, ein Geschöpf aus Lehm, das allen Launen dieses Erdenlebens unterworfen ist, im Bösen wie im Guten.“
    Wieder blickt er die Versammelten an. „Und keiner von euch“, donnert er so laut, dass selbst Luc und Michael zusammenzucken, „wird ihr auch nur ein Haar krümmen. Ich habe diesen beiden mein Siegel aufgedrückt. Wer immer in Hass oder Zorn die Hand nach ihnen ausstreckt, ist des Todes. Die beiden gehören mir“, fügt er leiser hinzu. „Und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich die Ernte einfahren, die mir zusteht.“
    Und damit verschwindet er.
    Ryan richtet sich auf, quicklebendig und strahlend vor Glück.
    „Mercy“, sagt er und sieht mich staunend an. Er kann es kaum fassen, dass ich hier vor ihm stehe, barfuß und in einem einfachen weißen Kleid, mit meinen glatten dunklen Haaren, die mir über die Schulter fallen.
    Als ich mich umsehe, erscheint mir alles zweidimensional. Ich kann keine Gedanken mehr lesen oder die Energien anderer Lebewesen im Raum erspüren. Die Gesichter, die ich erblicke, sind noch dieselben, aber die Farben haben plötzlich keine Tiefe mehr, die Geräusche, die ich auffange, sind dumpf, ohne Nachhall. Ich habe keine übernatürlichen Fähigkeiten mehr, nur noch
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