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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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komplexes System wie die Evolution gar nicht mit »optimalen« Bedingungen rechnen kann – und mit Treibhausbedingungen schon gar nicht. Denn ein System, das nicht auch einmal einen Fehler ausbügeln kann, bricht unter realen Bedingungen rasch zusammen. Das menschliche Entwicklungssystem muss ja unter den vielfältigsten Umständen funktionieren – in der Wüste Gobi genauso wie in der Arktis. Die kindliche Entwicklung kann gar nicht dieses kapriziöse, unglaublich anfällige Uhrwerk sein, in dem jedes Stäubchen stört und jedes Sandkorn gleich den Zeiger anhält! Die kindliche Entwicklung orientiert sich eher am Prinzip VW-Käfer: und läuft und läuft und läuft …
    Aus evolutionärer Sicht gibt es aber noch einen zweiten Grund, weshalb das Wohl und Wehe unserer Kinder nicht am seidenen Faden unserer täglichen Entscheidungen als Eltern hängt: Wir Menscheneltern sind Teil eines größeren Systems »Erziehung«. Und dieses System ruht nicht allein auf unseren Schultern – da sind Freunde mit von der Partie, Erzieherinnen, Lehrer, Verwandte, Nachbarn, Geschwister und natürlich auch die so oft vergessenen anderen Kinder. Zwischen dem, was wir, im positiven wie im negativen Sinn, für unsere Kinder tun, liegt damit so mancher Puffer und so manche Chance auf Wiedergutmachung und Gesundung. Rund um den Globus gibt es glückliche Kinder – auch dort, wo die Eltern einige Lasten mit sich zu schleppen haben. Und Kinder gedeihen auch dort, wo Eltern ihre Kinder völlig anders erziehen, als die Ratgeber hierzulande das ( dringend!) empfehlen. Das Glück der Kinder scheint weder an einer bestimmten »Methode« noch an »optimalen Eltern« zu hängen.
    Nicht gestört, nicht feindlich gesinnt
    Das Kind unserer Träume schläft durch, isst sein Gemüse, liebt auch Spinat, und es schläft allein, ohne die Nähe von Mama und Papa einzufordern. Es hat keine Zornanfälle, lacht Fremde freundlich an (nur die Richtigen natürlich) und benimmt sich auch in der Pubertät »vernünftig« und besonnen. Die brutale Wahrheit ist aber die: Ein solches Kind hätte sich unter den Bedingungen der Vergangenheit nie erfolgreich entwickelt.
    Nehmen wir als Erstes also die verunglimpfenden Töne aus dem Kinderbild, wir brauchen sie nicht mehr: Kinder sind uns Erwachsenen nicht feindlich gesinnt. Sie sind keine potenziellen Tyrannen und wir nicht ihre Bezwinger. Sie wollen uns mit ihrem Verhalten nicht eins auswischen, uns »manipulieren« oder gar die Macht im Laden übernehmen.
    Ja, wir müssen das Verhältnis von Kindern und Eltern aus evolutionärer Sicht überhaupt neu verstehen. Grundlage kindlicher Entwicklung ist nicht ein »Machtgefälle« von den Eltern zum Kind, mit Hilfe dessen die kindliche Psyche »geformt« wird, wie Michael Winterhoff das annimmt. Kinder gedeihen in funktionierenden Beziehungen. Und darauf legen sie es an, von Anfang an. Da geht es nicht um Führung oder Macht, sondern: um gemeinsames Lernen!
    Und Kinder sind auch nicht »gestört«, auch diese Sorge können wir streichen. Dass sie als Babys und Kleinkinder unsere Nähe suchen, ist kein ungebührlicher Übergriff. Und dass sie alleine schlecht schlafen, keine »Schlafstörung«. Auch dass sie eine Zeit lang kein Gemüse essen, ist keine Essstörung oder sonst wie ein Defekt. Diese »Störungen« gehören zum Lieferumfang eines jeden jungen Homo sapiens.
    Was ist aber mit unserer vierten Angst – der Angst, die Kleinen nicht genug zu fördern? Geduld. Sie hat sich in den letzten Jahren so sehr in den Vordergrund geschlichen, dass wir sie mit etwas mehr Fundus im Gepäck angehen werden (siehe »Die Freiheit der Kinder« ab Seite 53).

2
AUSMISTEN! WELCHE MYTHEN ENTSORGT GEHÖREN
    Anstatt uns ständig zu ängstigen, fangen wir doch lieber mit den Fragen an.
    Warum denn sollen Babys diese kleinen Rentner sein, die man angeblich mit der Uhr in der Hand nach genauen Vorschriften hegen und pflegen, bespielen, ausführen und mit den neuesten »Pflegeprodukten« und »Förderspielzeugen« versorgen muss? Sind all das wirklich die Bedürfnisse der Babys – oder vielleicht doch eher jene der Anzeigenkundschaft der zahlreichen Elternmagazine?

    Warum braucht es ein Farb-Leitsystem für die Beikost? Ein Werbegag der Industrie, damit sie ihren Stracciatella-Nachtisch jetzt auch noch bei den Babys los wird? Aus evolutionärer Sicht jedenfalls ist ein »Beikostfahrplan« so plausibel wie die Vorstellung, dass man einen Kuckuck in einer Kuckucksuhr findet: Babys bekamen
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