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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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durch die Jahrtausende zugefüttert, was saisonal verfügbar war — von Knochenmark über Früchte, Beeren bis hin zu Knollen. (»Gemüse« dürfte eher selten dabei gewesen sein.) Entsprechend sah die Beikost für ein Baby, das im Frühjahr geboren wurde, komplett anders aus als für ein Herbst-Kind. Gleich war dabei immer nur eines: Die Kinder wurden trotz des Zufütterns weiter gestillt – während heute oft stillschweigend angenommen wird (und in den Broschüren der Babynahrungsindustrie dankbar weitergereicht wird), das Einführen von Beikost sei der Startschuss zum Abstillen – jetzt gelte es Brustmahlzeit um Brustmahlzeit durch Gläschenkost zu ersetzen. 4
    Ja, warum sollen Babys das Plantschen im Wasser brauchen, um »ihr Körpergefühl zu entwickeln«, wie die Anbieter von Babyschwimmkursen behaupten? Nichts gegen das Plantschen mit einem Baby – aber wie sind Kinder denn früher geschickt geworden, als Eltern mit dem Baby auf dem Rücken sammeln gingen und nicht ins Schwimmbad?
    Und warum soll sich die Intelligenz der Kleinen schneller entfalten, wenn im Kindergarten Chinesisch gesprochen wird? Intelligenz war zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte eine begehrte Ressource, es sollte keiner filigranen Bedingungen bedürfen, damit sie sich bilden kann.
    Da gibt es also Einiges aufzuräumen. Nehmen wir jetzt eine Behauptung nach der anderen und legen sie auf die evolutionäre Waage: Was ist dran an der Theorie, Kinder brauchten ihr eigenes Bettchen, um selbstständig zu werden? Was ist dran an der Behauptung, Kinder brauchten ihr Gemüse, was an der Behauptung, »Regelmäßigkeit« tue ihnen gut? Und was genau ist so schlimm an der Pubertät?

    Das eigene Bettchen als Ziel?
    »Jedes Kind kann schlafen lernen« – was für eine großaratige Verheißung eines Buchtitels, der wohl allen Eltern bekannt ist. Aber trotz millionenfach verkaufter Ratschläge scheint das Schlafen unserer Kinder nicht wirklich zu klappen. Seit etwa 20 Jahren diagnostizieren Kinderärzte bei immer mehr und bei immer kleineren Kindern »Schlafstörungen«. Und allerorten schießen »Schlafambulanzen« aus dem Boden.
    Das hat einen simplen Grund, nämlich: die evolutionäre Geschichte unserer Kinder. Alleine einzuschlafen passt kleinen Kindern nicht in ihr Entwicklungsprogramm, wie es sich im Lauf der Menschheitsgeschichte ausgebildet hat – auch wenn manche Ratgeber, wie etwa der oben genannte, das anders darstellen. Der einzige sichere Schlafplatz für leckere kleine Geschöpfe war bis in die jüngste Vergangenheit dicht bei einem vertrauten Erwachsenen. Da ging es ganz simpel ums Schlafen – nicht um das Schlafenlernen.
    Und dieses »Wissen« tragen die Kleinen noch heute in sich. Denn auch wenn wir den gefährlichen Lebensstil der Jäger und Sammlerinnen vor ein paar Tausend Jahren verlassen haben – unsere heutigen Babys starten nun einmal mit den aus der Geschichte ererbten Gefühlen in ihr Leben (wie gesagt, die Natur ist mit ihren Updates quälend langsam). Kein Wunder, dass den kleinen Menschen das Allein-Schlafen – das ja erst vor wenigen Generationen überhaupt in den Katalog der kindlichen Lernziele hineingerutscht ist – ängstigt.
    Besonders explosiv wird die Lage, wenn zu dem Baby mit seinen Ängsten (»Die werden mich doch nicht allein lassen?«) auch noch elterliche Ängste kommen (»Wenn wir jetzt nachgeben, verwöhnen wir das Kleine!« Oder: »Wenn Linus nicht lernt, alleine einzuschlafen, wird er es sicher schwer haben, selbstständig zu werden!«). Kein Wunder, dass den Schlafambulanzen da die Arbeit nicht ausgeht. Und ein triftiger Grund, nach Kompromissen zu suchen (gleich mehr zu dieser Suche).
    Die Angst vor dem krummen Rücken
    Wenn das mit dem Schlafen schon so schwierig ist, wie ist es dann mit dem Tragen? Ja, darf man kleine Kinder denn überhaupt tragen – in einem Tragetuch etwa? Noch immer fällt vielen (darunter, leider, auch manchen meiner kinderärztlichen Kollegen) dazu als Erstes ein: ein orthopädisches Doppelproblem – schlecht für den Rücken des Kindes und schlecht für den Rücken der Mutter! Dabei ist das Getragenwerden die angestammte Form des Transports für ein Menschenbaby. Tragen war nun einmal über die ganze Menschheitsgeschichte hinweg so ziemlich die einzige Option, um mit einem Kind von A nach B zu kommen. Noch heute werden Babys in den meisten Kulturen rund um den Globus getragen – von krummen Rücken keine Spur. Seltsam auch, dass die Epidemie der Rückenprobleme,
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