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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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die so viele von uns plagen, ausgerechnet in einer Generation auftritt, die brav Wägelchen geschoben hat und im Wägelchen geschoben wurde.
    Und seltsam auch die Epidemie der »lagebedingten Plagiocephalie«, wie Kinderärzte die plattgelegenen Hinterköpfe bei Säuglingen und Kleinkindern nennen, die sie immer öfter in der Praxis sehen. Dagegen verordnen sie etwa häufiges Umlagern – das Baby soll nicht immer auf seiner Lieblingsseite liegen. Oder sie verschreiben gar aufwendige orthopädische Helme, die das Köpfchen dann wieder geradedrücken sollen.
    Die eigentliche Vorbeugung gegen plattgelegene Kinderköpfe ist aber das, was in der menschlichen Geschichte schon immer Usus war: dass Babys eben nicht immer liegen, sondern, ja – getragen werden. Dazu aber bekommen Eltern noch immer viel zu oft eine falsche Auskunft: Das sei für das weiche Rückgrat des Babys problematisch! Dabei gibt es keinen einzigen Fallbericht, nach dem ein Baby durch das Tragen einen krummen Rücken bekommen hätte.
    Zudem stellt das Getragenwerden am Körper, verglichen mit dem Kinderwagen, die für die Entwicklung der Kinder weitaus
reichhaltigere Alternative dar: Schon früh bewegt sich das Baby mit, benutzt seinen Halteapparat, seinen Gleichgewichtssinn und überhaupt seine Sinne – es spürt seine Mutter, hört ihre Sprache, reagiert auf ihre Gefühle und tritt in einem geschützten Raum auch mit anderen Menschen in Beziehung. Und anstatt im Buggy in der Fußgängerzone vor sich nur wackelnde Hintern zu sehen und auf Auspuffhöhe auf dem Gehweg geschoben zu werden, sind die Kinder viel stärker in die menschliche Kommunikation eingebunden (die nun einmal übers Gesicht und nicht über den Allerwertesten läuft). Wenn es nicht so lächerlich wäre, könnte man das Tragen geradezu als »Frühförderung« bezeichnen! 5
    Und hier ist das Rätsel: Warum halten wir dennoch den Transport in einem gefederten Bettchen auf Rädern für den Normalfall – auch wenn die Kinder dort von der Welt vor allem den (zumindest tagsüber) am wenigsten interessanten Teil mitbekommen, den Himmel? Warum reden wir so viel über mögliche Rückenprobleme beim Tragen – und so wenig von den Hunderten von Chemikalien, die nach einer Untersuchung der Stiftung Warentest von den Plastikteilen neuer Kinderwagen ausgedünstet werden und unter anderem das Gehirnwachstum der Babys negativ beeinflussen? Warum verlangen wir Grenzwerte für Dioxine in Eiern und nicht für die Plastikgehäuse, in denen unsere Babys oft Stunden verbringen? Vielleicht weil die meisten Hersteller dann vom Markt fliegen würden?
    Die Angst vor der Unregelmäßigkeit
    Noch immer hält sich die Vorstellung hartnäckig, Babys brauchten nur alle drei Stunden an der Brust zu trinken. Auch wird weiterhin vermutet, dass Kinder, die schon früh an »Regelmäßigkeit«
gewöhnt würden, es auch später im Leben mit Regeln und Ordnung leichter hätten.
    Das Problem dabei ist nur, dass kleine Kinder gar nicht regelmäßig sein können . Denn von der Natur ist es so eingerichtet, dass die Nahrung der Kleinen zunächst einmal sowohl Hunger als auch Durst stillen muss – einmal mehr das eine, einmal mehr das andere. Die Vorstellung, dass Babys den Busen regelmäßig alle drei (oder gar alle vier) Stunden leerputzen, ist deshalb schlicht und einfach eine willkürliche Erfindung (die nicht ohne Grund im Industriezeitalter gemacht wurde). Babys folgen nicht der Uhr. Einmal brauchen sie mehr Kalorien (etwa wenn sie tagsüber viel wach waren oder viel Aufregendes erlebt haben), einmal brauchen sie mehr Flüssigkeit, etwa wenn es warm ist oder wenn sie viel gestrampelt haben. Zudem geben sie bei der Entwicklung einmal mehr Gas, einmal weniger – schon deshalb müssen sie manchmal häufiger an die Zapfsäule, manchmal seltener. Von Säuglingen Pünktlichkeit bei der Nahrungsaufnahme zu verlangen ist also ähnlich putzig, wie wenn wir meinten, wir selbst sollten am besten nach der Uhr aufs Klo gehen.
    Wer jetzt lacht, mag ein Elternmagazin kaufen. Dort empfehlen »Forschungsinstitute« genau vier Mahlzeiten – für Säuglinge ab dem fünften Monat(!). Der Stundenplan beginnt um sechs oder sieben Uhr (»nicht viel später, weil sich die folgenden Mahlzeiten sonst zu weit nach hinten verschieben«). Mahlzeit, hoffentlich funktioniert der Wecker!
    Die Antwort der Babys auf »Regelmäßigkeit« ist vorhersehbar: Säuglinge, die nach Plan gefüttert werden, schreien mehr als von der Uhr befreite Kinder. Und sie
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