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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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ist das alles irrational und natürlich geht es da oft »nur« ums Prinzip, nur um das Nein. Aber die Revolution richtet sich nicht gegen die Eltern. Bei diesem Eigensinn geht es nicht um Macht. Das ist eine Revolution für die eigenen Interessen – für die Interessen der eigenen Entwicklung. Und genau dieser natürliche Eigensinn steckt auch noch heute in unseren Kindern – die Natur liefert nun einmal nicht jeder Generation ein Update für deren Verhaltensprogramm. Vor allem aber: Dieser Eigensinn unterstützt auch heute noch die Entwicklung unserer Kinder. 3

    Brav sein – für die Eltern?
    Und hier wäre also meine Frage: Was, bitteschön, ist daran auszusetzen, dass Kinder für ihre eigenen Interessen eintreten? Warum interpretieren wir die kindlichen Verhaltensweisen so hartnäckig als Ausdruck einer angeblichen »Machtfrage«?
    Ein Rätsel in der Tat. Es beginnt schon damit, was wir als »brav« definieren. Ein Kind ist »brav« (also gut), wenn es so ist, wie wir uns das in unserem eigenen Interesse wünschen. »Mein Kind war heute Nacht gar nicht brav«, sagt da eine Mutter zu ihrer Hebamme – »es hat mich heute Nacht zweimal geweckt.« Am zweiten Tag des Wochenbetts war also das Kind nicht »brav«, weil es das gemacht hat, was Babys seit Hunderttausenden von Jahren machen müssen , um am Leben zu bleiben – nämlich sich auch nachts mit Nahrung versorgen! Irgendwo muss es uns da mit unseren Vorstellungen, wie Babys sich verhalten sollen, aus der Kurve getragen haben.
    Mit dieser Masche wird aus so ziemlich jeder kindlichen Verhaltensweise ein Protest, ja, ein Angriff auf die Eltern. Dass das Kind sein Gemüse nicht isst (wo es doch vorher so »brav« seine Gläschen gelöffelt hat): klarer Ausdruck seines Dickkopfs. Dabei war das einmal Voraussetzung für sein Überleben (warum, erzähle ich Ihnen später noch genauer). Dass es auf dem Nachhauseweg vom Spielplatz hochgenommen und getragen werden will: ein Ausdruck von Manipulation – aus evolutionärer Sicht aber ein ganz normales Verhalten. Dazu will ich Sie noch einmal kurz in die Vergangenheit entführen, in der Sie eben nicht in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit Ihrem Kind lebten, sondern Teil eines mobilen Stammes von vielleicht 50 bis 150 Mitgliedern waren. In Ihren Jagd – und Sammelgründen lebten auch Hyänen und Raubkatzen, im Winter vielleicht sogar ganz in der Nähe Ihres Lagers. Da waren Bäche, die reißend anschwellen konnten. In dem Wald, durch den Sie mit Ihrem Kind streiften, standen Tollkirschen und Heidelbeeren eng beieinander. In dieser Umwelt war eines gewiss: Kleinkinder wurden hochgenommen, wann immer sich die
Gruppe in Bewegung setzte, immer . Alles andere wäre viel zu gefährlich gewesen – wie leicht hätten die Kleinen im Unterholz verloren gehen, in einen Bach stolpern oder eben hinter der Gruppe zurückbleiben können (wilde Tiere haben es immer auf verirrte Jungtiere abgesehen). Und deshalb: Ja, es nervt, wenn die Kleinen sich an die Mutter klammern, sobald die sich in Bewegung setzt – wo sie doch vorher ihre Beinchen beim Spielen im Park so gut benutzen konnten! Aber Kleinkinder tun das nicht, um ihre Eltern zu ärgern, das war einmal eine Frage ihres Überlebens. (Ähnliches gilt übrigens für eine andere hartnäckige »Unart« von Kleinkindern – dass sie immer die Aufmerksamkeit der Erwachsenen einfordern. Wenn die Mutter mal nicht zuguckt und etwa mit einer anderen Mutter plaudert, unterbrechen sie deren Gespräch sofort ... Ja, auch das nervt. Früher aber war es ein sehr kluger Zug, dafür zu sorgen, dass die Mutter ihre volle Aufmerksamkeit auf das spielende Kind richtete – zu schnell hätte eine Hyäne sich anschleichen können.)
    Die Angst, nicht perfekt zu sein
    Vielleicht ist die größte Angst heutiger Eltern aber die: dass sie ihren Job nicht perfekt machen. Dass sie als Eltern vielleicht einmal einen Durchhänger haben – und alles ist vermasselt. Dass sie ihren Kindern nicht das Beste bieten können – und schon haben die einen Schaden fürs Leben!
    Aus Sicht der Evolution ist das eine unbegründete Sorge. Kinder sollten auch dann »etwas werden«, wenn nicht alles optimal läuft, sondern lediglich »gut genug«. Denn unter dem Strich war die Welt, in der sich die Menschheit entwickelt hat, kein Schlaraffenland. Kinder sind darauf ausgelegt, die Kurve ins Erwachsenenleben
auch dann zu kriegen, wenn die Sonne nicht immer scheint.
    Systemtheoretiker weisen sogar darauf hin, dass ein derart
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