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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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manchmal dargestellt wird, sondern ein wechselseitiges Geben und Nehmen.
    Nähe und Lernen
    Ja, Nähe erleichtert sogar das Lernen. Ist das denn in den ersten Wochen und Monaten überhaupt schon Thema bei den Kleinen? Und wie! Denn Eltern und ihre Babys mögen Traumpartner sein, das gemeinsame »Tanzen« im Alltag aber müssen sie nach und nach erst entdecken und – ja: erlernen . Die ersten Lebensmonate sind sozusagen eine Übungsstrecke. Da erfahren Mutter und Kind, wie man ohne großen Aufwand, feinfühlig und niederschwellig miteinander kommuniziert. Glückt der Tanz, so kann auf grobe Signale (wie etwa Schreien) leichter verzichtet werden.
    Tatsächlich lässt sich auch im Alltag zeigen, dass Nähe den intuitiven Austausch fördert. In einem klassischen Experiment erhielten 25 zufällig ausgewählte, sozial benachteiligte Mütter nach der Geburt Tragesäcke. 25 andere, ebenfalls zufällig ausgewählte Mütter bekamen gepolsterte Plastikliegeschalen für ihre Kinder. Das ganze erste Lebensjahr über wurden die Kleinen regelmäßig auf ihren Entwicklungsstand untersucht und der Umgang von Mutter und Kind beobachtet und ausgewertet. Dabei zeigte sich, dass die Mütter, die ihre Säuglinge trugen, schon nach wenigen Monaten sensibler mit ihren Kindern umgingen. Nach einem Jahr wurde bei 83% der »Tragekinder« eine sichere Bindung zur Mutter festgestellt – also eine gute emotionale Beziehung. Unter den Nicht-Getragenen wiesen nur 38% eine sichere Bindung auf.
    Belohnen und Bestrafen
    Aber was ist dann mit der Annahme, dass Babys auch mal warten sollten, damit sie nicht allzu fordernd werden? Vermasseln wir uns mit der Nähe nicht die Erziehung? Bekommt, wer auf »unerwünschtes Verhalten« nachgibt, nicht irgendwann dafür die Quittung – ein ewig schreiendes, ein schlecht schlafendes, immer forderndes, immer unzufriedenes Kind?

    Zumindest wissenschaftlich hat diese Altlast der Pädagogik ihr Endlager gefunden. In den Untersuchungen der heutigen Entwicklungspsychologie zeigt sich nämlich eines: Diejenigen Bedürfnisse, die für die Entwicklung eines Kindes von grundlegender Bedeutung sind, können von außen gar nicht gesteuert werden! Kinder werden nicht weniger hungrig, wenn wir ihren Hunger ignorieren. Und sie fangen nicht an, uns aus dem Haus zu futtern, wenn wir ihnen zu essen geben, wenn sie hungrig sind!
    Und so ist es auch mit dem Weinen: Babys, die verlässlich getröstet werden, schreien später eben nicht mehr , sondern weniger als solche, die »warten« mussten. 2 Babys geben das Weinen nicht auf, nur weil wir sie schreien lassen. Sie weinen aus ihrer Sicht ja nicht, um ungebührliche Ansprüche anzumelden, sondern um ihr Leben zu retten!
    Diese Zusammenhänge sind wissenschaftlich so gut untermauert, dass man sich schon fragen muss, warum man dieses Geschwätz über Babys noch immer so oft zu hören bekommt.
    Die Wurzel von Verwöhnung
    Aber heißt das, dass man Kinder nicht verwöhnen kann? Natürlich gibt es verwöhnte Kinder – Kinder, die sich partout nicht von dem extremen Egoismus trennen können, der im Kleinkindalter zunächst einmal ein völlig normaler und wichtiger Teil der Entwicklung ist. Kinder, die alles haben müssen, und zwar sofort, und die es einfach nicht lernen, sich auf die Bedürfnisse anderer einzustellen. Aber: Das Problem dieser Kinder rührt nicht daher, dass sie zu viel Nähe bekommen hätten oder dass ihre emotionalen Bedürfnisse zu freizügig gestillt worden wären. Ihr Problem liegt in einem anderen Bereich: Sie sind in ihrer sozialen Entwicklung stecken geblieben. Ihr Weg in die Selbstständigkeit – der beim Menschen ja immer auch ein Weg in die Gemeinschaft ist – hat Schlagseite bekommen.

    Entwicklung ist nun einmal eine Frage der Balance. Kinder brauchen Nähe – aber sie brauchen auch die Verankerung in der Gemeinschaft. Und das heißt umgekehrt: Wer seinen Kindern viel Nähe gibt, gibt ihnen dadurch eine gute Basis – aber er gibt ihnen damit noch lange nicht alles . Auch aus eng umsorgten Babys können einmal problematische Erwachsene werden. Nähe allein ist noch kein Entwicklungsmotor. Sie muss immer auch sozial belebt werden (und dass es da heute für die Kinder in der Tat Probleme gibt, werden wir noch sehen).
    Die Angst vor den Tyrannen
    »Da Kinder nicht gehorsam geboren werden, ignorieren sie Anweisungen, rebellieren gegen Erziehungsmaßnahmen, missachten Gebote und wenden alle Mittel an, um ihren eigenen Willen durchzusetzen.« Sagt Bernhard
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