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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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essenden und brav lächelnden Kind kommen – und wenn Sie es nicht hinkriegen, haben Sie sich eben nicht richtig angestrengt? Nein. Ich stelle in diesem Buch keine neuen Vermutungen auf, etwa wie die Psyche der Kinder funktioniert.
    Was ich hier einbringe ist eine neue Perspektive. Und sie ist nichts weniger als ein Weckruf. Wer Kinder wirklich fördern will, muss die Wurzeln ihrer Entwicklung kennen. Wir haben unsere Kinder viel zu lange nach den immer neuen, schicken Theorien tanzen lassen, die aktuelle Mode an ihnen durchprobiert – ja, sie zu Versuchskaninchen gemacht. Dagegen will ich den Pflock der Evolution einrammen. Die Welt mag chinesische Wachstumsraten ehrfürchtig bewundern – aber wie Kinder sich entwickeln und stark werden, hat sich dadurch kein bisschen geändert. Wer, bitteschön, garantiert uns denn, dass die Kinder-Optimierer, die jetzt unterwegs sind und nach mehr Druck und Drill rufen, nicht die Bedürfnisse der Wirtschaft mit den Bedürfnissen unserer Kinder verwechseln? Wer garantiert uns denn, dass diejenigen, die jetzt
ruckzuck die Kindheit sanieren wollen, nicht ihre eigenen Probleme auf die Kinder übertragen? Wer garantiert uns, dass ihre Spekulationen nicht genauso platzen wie die Blasen zuvor – wer erinnert sich noch an die antiautoritäre Erziehung? Noch einmal: Dagegen will ich eine Prüfung fordern. Die Frage nach dem Wohin – das ist meine feste Überzeugung – kann nur beantworten, wer die Antwort auf die Frage nach dem Woher kennt. Deshalb wird uns in fünf oder zehn Jahren auch die chinesische »Mutter des Erfolgs« wieder nur ein Kopfschütteln wert sein.
    Der Maßstab, den ich hier einfordere, ist nicht auf meinem Mist gewachsen. Er hat ein eigenes Gewicht – das Gewicht der vielen tausend Jahre, in denen unsere Kinder zu dem wurden, was sie heute sind. Wir brauchen dieses Gewicht, damit die Luftschlösser wieder auf dem Boden landen. Wir brauchen dieses Gewicht, damit wir wieder über Kinder reden, wie sie sind – und nicht von Kindern, wie wir sie uns tagesaktuell zusammenreimen.

1
DIE ANGST-MASCHE: WOMIT ELTERN ZU KÄMPFEN HABEN
    Wie sehr wir schwimmen, zeigt sich doch an der Angst, die immer mit von der Partie ist, wenn es um den »richtigen« Umgang mit Kindern geht. Tatsächlich haben die meisten Theorien, die da über Kinder lanciert werden, einen gemeinsamen Nenner: Sie sind verzagt, sie sind pessimistisch und sie verbreiten eine Heidenangst.
    Angstbesetzt? Pessimistisch? Verzagt? Gerade die Elternmagazine scheinen doch grenzenlosen Optimismus zu verbreiten: »In jedem Baby steckt ein Super-Kind!« Und dazu strahlende Babys,
strahlende Eltern – jeder Geigerzähler würde an seine Grenzen kommen.
    Je tiefer es aber ins Kleingedruckte geht, desto schwieriger wird die Materie. In Wirklichkeit nämlich sind die fröhlichen Kinder – Mimosen!
    »Brauchen Babys Regelmäßigkeit?« »Na klar! Erfahrene Mütter zeigen, wie man den Tag strukturiert!«
    »Die ersten Worte – jetzt mit den richtigen Spielen fördern!«
    »So wird Ihr Kind ein Optimist – wir verraten die Glücksregeln. «
    So schön und heimelig kann das klingen, wenn deutsche Journale ihr rettendes Wissen preisgeben.
    Und dann ist da diese Zeitungsbeilage zur Beikost – zwölf Seiten dick, nach einem Farb-Leitsystem aufgebaut. Gläschen für den fünften Monat, Gläschen für den sechsten Monat (mit Putenfleisch), Gläschen für den siebten Monat (mit Rindfleisch). Für jeden Monat zehn verschiedene Mischungen! Der Übergang von der Muttermilch zu fester Kost scheint ein Studium der Ernährungswissenschaft vorauszusetzen. Ja, sie sind putzig, die Kinder, aber offenbar ziemlich kompliziert.
    Und deshalb breitet sich hierzulande ein neuer Sport aus – nämlich danach zu suchen, was die Natur bei der Grundausstattung der Kleinen wohl vergessen haben könnte. Eine Zeichensprache für Babys etwa? Ein paar Schwimmhäute zwischen den Fingern? Die Gene für mehr Begeisterung beim Gemüse? Einen Sinn für Mozart?
    Der Trick scheint zu funktionieren. Mit jeder neuen Entdeckung, was Kinder angeblich brauchen, wird eine neue Angst fixiert: Was, wenn ich das alles – Gott bewahre — meinem Kind nicht gebe oder nicht geben kann? Mit jedem neuen Eintrag in das Lexikon der Erziehung wird die Latte noch ein bisschen höher gelegt. Was Eltern alles vermasseln können!

    Angst und bang
    Aber das ist noch nichts gegen unsere elementaren Erziehungsängste . Manche haben wir von unseren Eltern geerbt, und die haben
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