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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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des Festlands, ein dickerer Kohlestrich über einem dünneren. Er drehte sich in die andere Richtung und begegnete dabei Cecilias Blick, der jetzt konzentriert und angespannt war.
    Auch in der anderen Richtung war von ihrer Tochter nichts zu sehen.
    Cecilia ging an ihm vorbei, wollte aufs Eis hinaus. Sie ging mit gesenktem Kopf, ihre Augen folgten den Spuren.
    »Ich seh mal im Leuchtturm nach«, rief Anders. »Sie muss sich versteckt haben oder so.«
    Er lief zur Leuchtturmtür und dann die Treppe hinauf, wobei er nach Maja rief, ohne eine Antwort zu bekommen. Mittlerweile pochte sein Herz heftig, und er versuchte sich zu beruhigen, klar und kühl zu werden.
    Es gibt schlicht und ergreifend keine Möglichkeit.
    Es gibt immer Möglichkeiten.
    Nein, tut es nicht. Nicht hier. Es gibt keinen Ort, an dem sie sein kann.
    Nein. Genau.
    Hör auf. Hör auf.
    Verstecken war Majas Lieblingsspiel. Sie war gut darin, Verstecke zu finden. War sie bei anderen Gelegenheiten stets hitzig und übereifrig, konnte sie beim Verstecken beliebig lange ruhig sitzen bleiben und still sein.
    Er ging mit ausgebreiteten Armen die Treppe hinauf, in der Hocke wie ein Affe, um mit den Fingern an den Rändern entlangzustreichen, wo die Treppe auf die Wand stieß. Falls sie hingefallen war. Falls sie in der Dunkelheit lag, wo er sie nicht sehen konnte.
    Falls sie gefallen ist und sich den Kopf gestoßen hat, falls sie …
    Aber er ertastete nichts, sah nichts.
    Er durchsuchte den Raum am Kopfende der Treppe und fand zwei Schränke, die so schmal waren, dass Maja sich nicht in ihnen versteckt haben konnte. Er öffnete sie trotzdem. Es lagen rostige Metallteile in ihnen, die er nicht identifizieren konnte, und Flaschen mit handgeschriebenen Etiketten. Keine Maja.
    Er ging zu der Tür, die zum oberen Turm hinaufführte, und schloss zwei Sekunden die Augen, ehe er hineinging.
    Jetzt ist sie da oben. Jetzt ist sie da. Dann laufen wir nach Hause und fügen das hier zu all den anderen Gelegenheiten, bei denen sie eine Weile fort gewesen und dann wieder zurückgekommen ist.
    Neben der Treppe befanden sich ein System aus Gewichten und Ketten sowie ein Maschinenschrank, der mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Er zerrte daran und stellte fest, dass es abgeschlossen war, dass Maja dort nicht sein konnte. Langsam stieg er die Treppe hinauf, rief ihren Namen. Keine Antwort. Jetzt rauschte es in seinen Beinen, und er hatte weiche Knie.
    Er betrat den Raum mit dem Reflektor. Keine Maja.
    Es war keine halbe Stunde her, dass er sie hier fotografiert hatte. Jetzt gab es nicht die geringste Spur von ihr. Nichts. Er schrie: »Maaaajaaaa! Komm raus! Das ist nicht mehr lustig!«
    Die Laute wurden von dem engen Raum aufgesogen und ließen das Glas vibrieren.
    Er ging durch den ganzen Raum, blickte aufs Eis hinaus. Tief unter sich sah er, dass Cecilia der Spur folgte, die sie hergeführt hatte. Aber nirgendwo war der rote Schneeanzug. Er schnappte nach Luft. Die Zunge klebte ihm am Gaumen. Das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Verzweifelt fuhren seine Augen in allen Himmelsrichtungen über das Eis.
    Wo ist sie? Wo ist sie?
    Leise, ganz leise hörte er Cecilias Stimme rufen, was er selbst inzwischen so oft gerufen hatte. Aber auch sie bekam keine Antwort.
    Denk nach, Idiot. Denk nach.
    Er schaute aufs Eis hinaus. Nichts stand seinem Blick im Weg, nichts konnte sie verbergen. Hätte es Löcher im Eis gegeben, man hätte sie gesehen. Egal, wie geschickt man darin war, sich zu verstecken, man musste trotz allem einen Platz haben, an dem man sich verstecken konnte.
    Er hielt inne. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er hörte Majas Stimme in seinem Kopf.
    Papa, was ist das?
    Er ging zu der Stelle, an der sie gestanden hatte, als sie ihre Frage stellte, und blickte in die Richtung, in die sie gezeigt hatte. Nichts. Nur Eis und Schnee.
    Was hatte sie gesehen?
    Er strengte seine Augen an, um etwas zu sehen, bis ihm einfiel, dass er immer noch den Rucksack anhatte. Er fischte die Kamera heraus und schaute durch den Sucher, zoomte und ließ das Objektiv über das Gelände schweifen, auf das sie gezeigt hatte. Nichts. Keine andere Farbschattierung oder Nuance im Weiß, nichts.
    Seine Hände zitterten, als er die Kamera in den Rucksack zurückwarf. Auf dem Eis sah man nur Weiß, Weiß, aber der Himmel war eine Spur dunkler geworden. Es wurde Nachmittag, in ein paar Stunden würde es dunkel sein.
    Er schlug die Hände vor den Mund, starrte in die große Leere hinaus,
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