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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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dabei, dass sie vorgibt, sich an mehr zu erinnern, als der Wahrheit entspricht. Sie leiht sich die Erinnerungen anderer Leute und vermischt sie mit ihren eigenen. Aber sie macht sich Sorgen deswegen, befürchtet, sie könnte so sehr auf die Erinnerungen anderer bauen, dass ihre eigenen nicht mehr vertrauenswürdig sind. Sie muss die paar eigenen, die sie hat, unbedingt festhalten.
    Sie mustert ein Gesicht nach dem anderen. Das Feuer wirft seltsame Schatten, glitzert auf Splittern von Metall und Glas, flackert auf hellen Narben, Verbrennungen und Knoten. Ein Mädchen sieht zu ihr hoch, eins, das Pressia kennt, aber den Namen vergessen hat.
    »Willst du ein Stück von einem Reinen?«, fragt es. »Schön knusprig gebraten?«
    »Nein«, erwidert Pressia lauter als beabsichtigt.
    Die Kinder lachen – mit Ausnahme des Jungen, der auf das Feuer aufpasst. Er dreht mit kleinen, zerbrechlichen Fingern einen Spieß, ganz behutsam, als würde er ein Instrument oder eine Maschine bedienen, irgendetwas, das man aufziehen kann. Sein Name ist Mikel. Er ist nicht wie die anderen Kinder. Er hat etwas Stählernes an sich, etwas Unbeugsames. Sie sieht ihm an, dass er viele Tote gesehen hat, seine Eltern schon lange weg sind.
    »Bist du sicher, Pressia?«, fragt er ernst. »Nur einen kleinen Bissen, bevor sie dich holen kommen?« Mikel hat eine fiese Ader, auch wenn sie sich normalerweise nicht gegen Pressia richtet, weil sie älter ist. Deshalb überrascht sie der Kommentar umso mehr.
    »Nettes Angebot«, sagt sie, »aber danke, ich passe.«
    Mikel sieht sie enttäuscht an. Vielleicht hat er gehofft, sie würde schreien, dass sie sie niemals holen würden. Wie dem auch sei, er tut ihr leid. Seine Grausamkeit lässt ihn klein und verwundbar wirken – das genaue Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen will.
    Ein Stück voraus entdeckt sie Kepperness, den Mann, den ihr Großvater erwähnt hat. Sie ist ihm schon eine Weile nicht mehr über den Weg gelaufen. Er ist etwa in dem Alter, in dem ihr Vater sein müsste. Er wirft mit aufgekrempelten Armen leere Körbe auf die Pritsche eines Handkarrens. Seine Unterarme sind übersät von Glassplittern, dünn und sehnig und muskulös. Er sieht sie an und wendet den Blick ab. Er hat noch ein paar dunkle Knollen in einem Korb. Sie neigt den Kopf, um die Narben auf der einen Seite ihres Gesichts zu verbergen.
    »Wie geht’s deinem Sohn?«, fragt sie in der Hoffnung, dass er glaubt, ihr noch etwas schuldig zu sein. »Ist sein Hals verheilt?«
    Er richtet sich mit einer Grimasse auf und streckt sich. Eines seiner Augen ist von einem orange-golden leuchtenden Film überzogen, einer Trübung durch Strahlungsverbrennungen. Nichts Ungewöhnliches. »Du bist das Kind vom Fleisch-Schneider, richtig? Die Enkeltochter, wenn ich mich nicht irre. Was machst du noch hier? Du dürftest eigentlich gar nicht mehr hier sein. Zu alt, würde ich meinen.«
    »Nein«, sagt sie abwehrend. »Ich bin erst fünfzehn.« Sie zieht die Schultern nach vorn, vorgeblich gegen den Wind, doch in Wirklichkeit versucht sie, kleiner und jünger auszusehen.
    »Tatsächlich?« Er hält inne und starrt sie an. Sie begegnet seinem Blick aus dem gesunden Auge – dem einzigen, mit dem er sehen kann. »Ich hab mein Leben riskiert für diese Knollen. Hab sie gleich neben dem Wald der OSR ausgegraben. Ein paar sind noch übrig.«
    »Na ja, was ich hier habe, ist quasi eine einmalige Gelegenheit. Das kann sich nur jemand leisten, der reich ist. Nichts für jedermann, weißt du?«
    »Was ist es?«
    »Ein Schmetterling«, sagt sie.
    »Ein Schmetterling?«, schnaubt er. »Es gibt nicht mehr viele Schmetterlinge.« Da hat er recht. Sie sind sehr selten. Im vergangenen Jahr hat Pressia ein paar mehr gesehen – kleine Zeichen von Regeneration.
    »Es ist ein Spielzeug.«
    »Ein Spielzeug?« Kinder haben keine richtigen Spielzeuge mehr. Sie spielen mit Schweinsblasen und aus Lumpen geknoteten Stoffpuppen. »Lass mich sehen.«
    Sie schüttelt den Kopf. »Warum? Du kannst es nicht bezahlen.«
    »Lass mich einfach sehen, okay?«
    Sie seufzt und tut zögerlich. Schließlich zieht sie den Schmetterling hervor und hält ihn hoch.
    »Näher«, sagt der Mann. Ihr wird klar, dass nicht nur eins, sondern beide Augen von den Bomben versengt wurden, das eine sehr viel stärker als das andere.
    »Jede Wette, dass du als Kind richtige Spielsachen gehabt hast«, sagt Pressia.
    Er nickt. »Was kann er?«
    Sie zieht den Schmetterling auf und setzt ihn auf
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