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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Autoren: Julianna Baggott
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Überlebenden draußen als »unsere niederen Brüder und Schwestern«, und die Funktionäre im Kapitol, einschließlich sich selbst, nannte er die »gütigen Wächter«. Sprachgebrauch wie dieser kommt von Zeit zu Zeit immer noch in öffentlichen Reden vor, doch im alltäglichen Geplapper heißen die Überlebenden außerhalb des Kapitols nur noch »Unglückselige«. Er hat seinen Vater diesen Ausdruck viele Male gebrauchen hören. Und Partridge muss zugeben, dass er einen großen Teil seines Lebens damit verbracht hat, die Unglückseligen zu hassen, weil sie seine Mutter mit in den Untergang gerissen hatten. Doch seit Neuestem, seit Glassings’ Weltgeschichtekurs, fragt er sich unwillkürlich immer wieder, was wirklich passiert ist. Glassings lässt durchblicken, dass die Geschichte biegsam ist. Dass sie verändert werden kann. Warum? Um am Ende besser dazustehen.
    »Es geht um deine Mutter und die Pillen, die sie dir gegeben hat«, sagt sein Vater in diesem Moment. »Die Pillen, die sie dich hat schlucken lassen, als du mit ihr unterwegs warst.«
    »Ich erinnere mich nicht. Ich war acht Jahre alt, verdammt! Was willst du von mir?« Noch während er es sagt, erinnert er sich an den Sonnenbrand, den er und seine Mutter bekamen, obwohl es bewölkt war, und wie seine Mutter ihm, als sie beide krank waren, eine Gutenachtgeschichte erzählte, von einer Schwanenfrau mit schwarzen Füßen. Seine Mutter – er sieht sie oft vor seinem geistigen Auge. Die lockigen Haare, die weichen Hände mit den zarten Knochen, wie bei einem Vogel. Die Schwanenfrau war nicht nur eine Geschichte, sondern auch ein Lied, mit einer Melodie und mit gereimten Worten und Handbewegungen. »Wenn ich dir die gesungene Version der Geschichte erzähle, musst du diese Kette in der Hand halten«, sagte seine Mutter zu ihm. Er hielt die Kette fest gepackt. Die ausgebreiteten Flügel des Schwanenanhängers waren scharfkantig, doch er ließ nicht locker.
    Einmal erzählte er die Geschichte seinem Bruder Sedge. Das war im Kapitol, an einem Tag, als Partridge seine Mutter sehr vermisste. Sedge meinte nur, es wäre eine Mädchengeschichte. Eine Geschichte für kleine Kinder, die an Feen glaubten. »Werd erwachsen, Partridge! Sie ist tot, aus und vorbei. Siehst du das denn nicht? Bist du vielleicht blind?«
    Jetzt bedrängt ihn sein Vater. »Wir müssen weitere Tests an dir durchführen. Eine ganze Batterie von Tests. Wir werden dich mit so vielen Nadeln spicken, dass du dich fühlst wie ein Nadelkissen.« Nadelkissen . Eines von diesen Worten, die nichts mehr bedeuten. Ein Kissen für Nadeln? Ist das eine Art Drohung? Es klingt jedenfalls so. »Es würde uns beiden helfen, wenn du uns erzählen würdest, was passiert ist.«
    »Ich kann nicht. Ich würde es ja gerne, aber ich weiß es nicht mehr.«
    »Hör zu, mein Sohn.« Partridge mag die Art und Weise nicht, wie sein Vater dieses Wort sagt, Sohn – wie eine Zurechtweisung. »Wir müssen deinen Kopf wieder klar bekommen. Deine Mutter …« Seine Augen sind misstrauisch. Seine Lippen trocken. Er sieht aus, als redete er mit jemand anderem. Er spricht mit einer Stimme, wie er sie beim Telefonieren benutzt. Hallo? Willux hier. Er verschränkt die Arme vor der Brust. Für einen Moment erschlaffen seine Gesichtszüge, als würde er sich an etwas erinnern. Dann erneut das Kopfschütteln. Selbst seine Hand scheint vor Wut zu beben. »Deine Mutter ist schon immer problematisch gewesen«, sagt er dann.
    Sie wechseln einen Blick. Partridge sagt kein Wort, doch sein Verstand wiederholt unablässig die Worte. Ist schon immer. Problematisch. Schon immer … gewesen. Das ist keine Vergangenheitsform. Das ist nicht die Art, wie man von Toten redet.
    Sein Vater fängt sich wieder. »Sie war nicht ganz richtig im Kopf.« Er reibt sich die Hände an den Oberschenkeln und beugt sich vor. »Ich habe dich durcheinandergebracht«, sagt er. Auch das ist eigenartig. Sein Vater spricht niemals über Gefühle.
    »Es geht mir gut.«
    Sein Vater steht auf. »Holen wir jemanden, der ein Foto von uns macht. Wann haben wir das letzte Mal eins gemacht?« Wahrscheinlich auf Sedges Beerdigung, denkt Partridge. »Damit du etwas hast in deinem Schlafsaal und nicht so sehr unter Heimweh leidest.«
    »Ich leide nicht unter Heimweh«, antwortet Partridge. Er hatte nie das Gefühl, ein richtiges Zuhause zu haben, nicht hier im Kapitol – wie also könnte er es so sehr vermissen, dass er darunter leidet?
    Sein Vater ruft trotzdem eine
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