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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen
Autoren: Hermann Hesse
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geradezu provoziert hat. Ein Lebenswerk, das sich heute dem Unvoreingenommenen darstellt als ein von Buch zu Buch diff erenzierter Versuch, Leben und Denken in Einklang zu bringen, die früh erlittene Entfremdung, den scheinbaren Gegensatz von Vernunft und Sensi-bilität aufzu heben. Hatte doch schon der Fünfzehnjährige seine Eltern bestürzt mit der Radikalität seiner Erwartungen: »Ich möchte mir den Schädel an diesen Mauern einrennen, die mich von mir selber trennen!«
    (Brief vom 30. 8. 1892)
    Hesse wußte um die Wandelbarkeit, also auch um
    den fortschreitenden Verfall und die Unwiederbringlichkeit die ser ›Kleinen Welt‹ vor der Jahrhundertwen-de. Und er hat nicht geruht, bis sie in seinen Roma-nen, Betrachtungen, Er
    innerungen und Erzählungen
    festgehalten und vergegenwär tigt war. Doch nicht als 570
    heile (weil vergangene) Welt, auch nicht als Karikatur zur Beförderung einer politischen Ten denz, sondern in liebevoll-realistischen Psychogrammen: eine Welt von Handwerkern, Lehrlingen, Fabrikarbeitern, Verkäufern, Dienstmägden, Friseuren, Fuhrleuten, Hausie rern, Asy-linsassen, Schiff brüchigen und Ausrangierten, kurz: wahren Prachtexemplaren von ›Proletariern‹, doch außer halb der ideologischen Schonungen, in naturali-stischem Wildwuchs.
    Es hat nicht an Stimmen gefehlt, die derlei unfeine Personagen beanstandet oder von skandalöser Harmlosigkeit des Autors gesprochen haben. In einem Brief von 1908 recht fertigt sich Hesse: »Namentlich aber wollen sie
    [die Kritiker] meine Stoff e nicht gelten lassen und meinen, ich solle von Herrenmenschen und Genies erzählen, nicht von Gemüse händlern und Idioten, da freut es mich, daß Sie mich gelten lassen und es verstehen, daß in meiner scheinbaren Beschei denheit auch Stolz liegt, und daß der Verzicht auf das Glän zende seine Gründe hat.« Durchschaut haben das nur we nige, und Stimmen wie die folgende (1912) waren an der Ta gesordnung:
    »Warum mißbraucht ein Dichter seine guten Gaben dazu, in aller Ausführlichkeit einen Menschen zu ent-wickeln, dessen höchstes Ziel im Bartkratzen und Zöpfe-fl echten besteht? Man fragt sich händeringend, was der Er zähler eigentlich an den dürftigen Philistern fi ndet, mit de ren billigen Zielen er uns vertraut macht! Hermann Hesse ist zu gut dazu, um sich in kleiner Münze 571
    auszugeben und das verliehene Talent an das Nichtige zu verschwenden.«
    Man braucht, um die Stoff wahl dieser frühen Erzählun gen zu verstehen, mittlerweile nicht mehr Hesses Diktum »ich bin immer für die Unterdrückten gewesen, gegen die Unterdrücker« zu bemühen. Ungezähl-te Leserbriefe schon zu seinen Lebzeiten und heute millionenfach in alle Sprachen und Kulturkreise der Erde verbreitete Übersetzungen haben bewiesen, daß diese scheinbar so lokalen und provinziellen Charak-terstudien aus dem schwäbischen Calw, dem ›Ger-
    bersau‹ seiner Erzählungen, mit ihren so wohltuend unheldi schen Helden die ganze Vielfalt menschlicher Psychologie und Verhaltensweisen in immer neuen Brechungen spiegeln. Denn so vertraut die Schauplät-ze auch anmuten, die Kon fl ikte, die dort ausgetragen werden, wachsen weit über das Lokale hinaus, der Mikrokosmos des scheinbar Provinziel len und des Indivi-duellen verweist vom Detail auf das Ganze. Was ›Sel-dwyla‹ für Gottfried Keller, die ›Dubliners‹ für James Joyce oder für Martin Walser die Umwelt seines An-selm Kristlein, das war für Hesse die ›Kleine Welt‹ von
    ›Gerbersau‹. Hier wie dort kehren in den verschiedenen Ge schichten mitunter sogar dieselben Lokalitäten und Namen wieder: Marktbrunnen und Mühlkanal,
    die noble Gerber
    gasse und die lichtlose Winkelwelt
    der Falkengasse mit ihren feuchten Fluren, den schad-haften Dachrinnen, gefl ickten Fenstern und Türen, 572
    den Unterprivilegierten und der Klein
    stadtnoblesse,
    dem unheimlichen Hausierer Hottehotte, den Familien Mohr, Trefz oder Dierlamm und dem benachbar ten Lächstetten.
    Am besten hat bisher Max Herrmann-Neiße diesen
    Typus der Erzählungen erfaßt. Daher sollen hier zusam-menfassend einige Sätze aus seiner nahezu unbekannt gebliebenen Be sprechung von 1933 zitiert sein: »Die deutsche Kleinstadt der Vorkriegszeit wird hier von einem gleicherweise zärtli chen wie wahrheitsstrengen Kenner gemalt als der krause, unterschiedliche, nicht ganz ungefährliche, im Grunde doch fruchtbare Gottes-Tiergarten, der sie damals war. Mit ihren Käuzen und kleinen Abenteurern, soliden und wurmstichi gen
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