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Meistererzählungen

Meistererzählungen

Titel: Meistererzählungen
Autoren: Hermann Hesse
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sehen. Ich redete mir, in der Form eines Gelübdes, innerlich zu, tapfer und männlich zu sein.
    So standen wir alle, eine Minute lang vielleicht, und wohl ums Herz war keinem von uns außer dem Brü-
    derchen, das den Fremden überhaupt nicht wahrgenommen hatte und ver gnügt mit seinen winzigen Fin-gerchen spielte. Ich wagte es, aufzublicken, nach dem Unheimlichen hin, und sah auf sei nem roten Gesicht die Unruhe und Unzufriedenheit noch gesteigert, er ge-fi el mir nicht, er machte mir richtig Angst, deutlich sah man widersprechende Triebe in ihm kämpfen und nach Taten drängen.
    Aber da war er auch schon mit seinen Gedanken und Ge
    fühlen zu einem Ende gekommen, ein Entschluß
    durch zuckte ihn, und man konnte das Aufzucken mit Augen se hen. Aber wozu er sich entschlossen hatte und was er jetzt tat, war von allem, woran ich etwa gedacht 560
    oder was ich ge hoff t oder gefürchtet hatte, das Gegenteil, es war das Uner wartetste von allem, was geschehen konnte, es überrumpelte uns beide, Adele und mich, vollkommen, daß wir starr und sprachlos standen. Der Bettler, nachdem der Zuck in ihn ge fahren war, hob einen seiner Füße in den mitleiderregenden Schuhen, zog das Knie an, erhob beide zu Fäusten geballte Hände bis in Schulterhöhe und lief in einem Schnellauf, den man seiner Figur kaum zugetraut hätte, die lange gerade Straße hinunter, er hatte die Flucht ergriff en und rannte, rannte wie ein Verfolgter, bis er die nächste Querstraße er reicht hatte und für immer unsern Augen entschwand.
    Was ich bei diesem Anblick empfand, läßt sich nicht be schreiben, es war ebensosehr Schrecken wie Aufatmen, ebenso Verblüff ung wie Dankbarkeit, aber zur selben Se kunde auch Enttäuschung, ja Bedauern. Und nun kehrte hei teren Gesichtes, mit einem langen Laib Weißbrot in der Hand, Vater aus dem Laden zurück, staunte einen Augen blick, ließ sich berichten, was geschehen war, und lachte. Es war am Ende das Beste, was er tun konnte. Mir aber war, als sei meine Seele mit dem Bettler fortgerannt, ins Unbekannte, in die Abgründe der Welt, und es dauerte lange, bis ich zum Nachdenken darüber kam, warum wohl der Mann vor dem Brotlaib davongelaufen war, so wie einst ich vor dem mir dargereichten Bissen des Bahnwärters durch-gebrannt war. Tage- und wochenlang behielt das Erleb-561
    nis seine Frische und Unausschöpfbarkeit und hat sie, so einleuchtende Begrün dungen wir später auch dafür ausdenken mochten, bis heute behalten. Die Welt der Abgründe und Geheimnisse, in die der fl üchtende Bettler uns entschwunden war, wartete auch auf uns. Sie hat jenes hübsche und harmlose Leben des Vordergrundes überwuchert und ausgelöscht, sie hat unsern Hans verschlungen, und auch wir Geschwister, die wir bis heute und bis ins Alter standzuhalten versucht haben, wissen uns und den Funken in unsern Seelen von ihr umdrängt und umdunkelt.
    (1948)
    Anhang
    Volker Michels
    Die Erzählungen Hermann Hesses
    Die Kraft des Genießens
    und die des Erinnerns sind voneinander abhängig.
    Genießen heißt, einer Frucht ohne Rest ihre Süßigkeit entpressen.
    Und Erinnerung heißt die Kunst,
    einmal Genossenes nicht nur festzuhalten,
    sondern immer reiner auszuformen.
    Hermann Hesse
    Es gibt Bücher, deren Lektüre Arbeit ist und Kräfte raubt, und andere, allzu wenige, die dem Leser Erholung und Rege neration ermöglichen, ohne daß er sich dabei auf Konzessio nen an Mode und Publikationsgeschmack eingelassen hätte. Solcher Art sind die Erzählungen Hermann Hesses. Kaum etwas in seinen Schilderungen ist erfunden, stilisiert oder konstruiert. Nichts greift über den Wahrnehmungsbereich eigener Erfahrung hinaus.
    Sie eröff nen kein Panoptikum un erhörter Begebenheiten, sondern lösen dem Unerhörten in den alltäglichen Begebenheiten die Zunge. Zwar kommen bei diesen lyrisch-psychologischen Studien sensationshung rige Leser möglicherweise nicht auf ihre Kosten, und doch be-563
    steht niemals die Gefahr der Langeweile. Denn trotz des Mangels an Sensation und action sind seine Erzählungen spannend. Diese, aller Prosa Hesses eigene Faszina-tion wird weniger durch das Was des Erzählten erreicht, sondern wie es geschildert ist. Struktur und Sinnlichkeit, Handlung und Beschreibung, Inhalt und Form sind bei ihm in einer Dosie rung ausgewogen, die off enbar der-jenigen unserer psycholo gischen Wahrnehmungsabläu-fe entspricht. Mit Proustschem Raffi
    nement begleiten
    und steigern atmosphärische Valeurs der Witterung,
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