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Meine Tiere, mein Leben

Meine Tiere, mein Leben

Titel: Meine Tiere, mein Leben
Autoren: James Herriot
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erinnere mich an einen bitterkalten Abend, als ich auf einem windumbrausten Berghang ein Mutterschaf von Zwillingen entband. Die Lämmer schüttelten krampfhaft die Köpfe, und schon nach wenigen Minuten richtete sich eines der beiden auf und lief wackelig und x-beinig zum Euter der Mutter, während das andere auf den Knien hinterher kroch.
    Der Schäfer, dessen rotes, wettergegerbtes Gesicht fast in dem hochgeschlagenen Kragen seines schweren Mantels verschwand, ließ ein kurzes Lachen hören. »Zum Teufel, woher wissen sie das nur?«
    Er hatte es tausendmal miterlebt und empfand es immer wieder als Wunder. Mir geht es genauso.
    Und dann erinnere ich mich an zweihundert Lämmer in einer Scheune an einem warmen Nachmittag. Wir impften sie gegen Nierenerkrankungen, und der schrille Protest der Jungtiere, vermischt mit dem unablässigen tiefen Bä-ä-ä von nahezu hundert Mutterschafen, die draußen unruhig umherliefen, machte jede Unterhaltung unmöglich. Ich fragte mich, ob diese Schafe imstande wären, ihre eigenen Kinder in der Masse der nahezu gleich aussehenden kleinen Geschöpfe aufzuspüren. Zumindest würde es eine Ewigkeit dauern.
    Es dauerte ungefähr fünfundzwanzig Sekunden. Als wir mit dem Impfen fertig waren, öffneten wir die Scheunentore, und die herausströmenden Lämmer wurden stürmisch von ihren besorgten Müttern empfangen. Zunächst war der Lärm ohrenbetäubend, aber er ebbte bald ab, und als das letzte verirrte Lamm in Sicherheit war, hörte man nur noch gelegentliches Blöken. Dann, immer hübsch zu zweien, zog die Herde aufs Feld.
     
    An diesem Morgen war ich zu Rob Bensons Farm gerufen worden. Oben auf der Böschung standen kleine aus Strohballen errichtete Hürden, eine lange Reihe quadratischer Einzelverschläge, in denen sich je ein Mutterschaf mit seinem Lamm befand. Ich sah Rob Benson vom hinteren Ende der Reihe mit zwei Futtereimern herankommen.
    Rob war schwer beschäftigt; dies waren die rund sechs Wochen des Jahres, in denen er überhaupt nicht schlafen ging, höchstens einmal die Stiefel auszog und am Küchenofen ein nächtliches Nickerchen hielt. Er war sein eigener Schäfer und rund um die Uhr gefordert.
    »Heut hab ich gleich ein paar für Sie, Jim.« Auf seinem zerfurchten Gesicht machte sich ein Lächeln breit. »Brauch eigentlich nicht Sie, sondern Ihr Damenhändchen und das recht dringend.«
    Er führte mich zu einer größeren Hürde mit mehreren Schafen. Als wir hineingingen, gab es einige Unruhe, doch Rob krallte sich gekonnt das Fell eines Tieres. »Das ist die Erste. Nicht viel Zeit, wie Sie sehen.«
    Ich hob den wolligen Schwanz an und schnappte nach Luft. Das herauslugende Lammköpfchen war so enorm angeschwollen, dass es inzwischen doppelt so groß war. Die Augen waren nur mehr zugequollene Schlitze, und die blaue, aufgedunsene Zunge hing ihm aus dem Mund.
    »Also, ich habe ja schon viele große Köpfe gesehen, Rob, aber dieser hier stellt sie alle in den Schatten.«
    »Jawohl, der kleine Racker kam mit den Beinen nach hinten. Wusst mir keinen Rat. War bloß eine Stunde weg, da war er groß wie ein Fußball. Teufel noch mal, geht das schnell. Ich weiß ja, er will die Beine rumgedreht kriegen, aber was soll ich machen mit den großen Pranken?« Er streckte die riesigen Hände von sich, die von der jahrelangen Arbeit rau und geschwollen waren.
    Während er sprach, zog ich meine Jacke aus und krempelte die Hemdsärmel hoch. Der Wind schnitt wie ein Messer in meine Gänsehaut. Ich wusch mir schnell die Hände und begann, rund um den Hals des Lamms nach einer Lücke zu suchen. Einen flüchtigen Moment lang öffneten sich die kleinen Augen und blickten mich verzweifelt an.
    »Jedenfalls lebt es«, sagte ich. »Aber es fühlt sich bestimmt schrecklich und kann gar nichts dabei tun.«
    Behutsam tastete ich mich vor und fand schließlich eine Stelle, an der ich womöglich vorbeikäme. Hier bewährten sich meine »Damenhände«, für die ich in jedem Frühling dankbar war; sie erlaubten es mir, mit geringst möglichem Unbehagen für die Mutterschafe zu Werke zu gehen, was entscheidend war, denn trotz ihrer robusten Wetterfestigkeit sind Schafe zart besaitet.
    Mit äußerster Sorgfalt tastete ich mich an der krausen Wolle entlang vom Hals zur Schulter vor. Noch ein bisschen weiter und ich konnte einen Finger um das Beinchen krümmen und zu mir heranziehen, bis ich das Knie fühlte; eine letzte Drehung und ich bekam den winzigen Fuß zu fassen und zog ihn sanft ans
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