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Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen

Titel: Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen
Autoren: Alexandra Fröhlich
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Grund meines Kommens zu lenken. Ohne Erfolg.
    »Ärrst essen!« oder »Ärrst trinken!«, sagte Rostislav jedes Mal und füllte auf.
    Nach dem Genuss des wunderbaren, aber schweren Mahls und diverser alkoholischer Getränke – neben Wodka wurden auch Wein und Sekt gereicht – stand mir der Sinn überhaupt nicht mehr nach Dingen wie Streitwert, Schriftsätzen oder Gerichtskosten.
    Was soll’s, dachte ich, morgen ist auch noch ein Tag. Seit langer Zeit fühlte ich mich erstmals wieder wohl. Das schrieb ich zum Teil dem Hochprozentigen zu, aber auch den Polyakows, die ich mittlerweile so originell wie reizend fand.
    Ihre Aufmerksamkeiten während des Essens, ihr offensichtliches Bestreben, mir alles recht zu machen und mich zu umsorgen, versetzten mich in einen Zustand tiefer Behaglichkeit. Ich kam mir vor wie ein satter Säugling. Gern hätte ich ein Bäuerchen gemacht.
    Da die Nacht kühl war, brachte Darya mir zwischen den Gängen eine Decke, Rostislav hatte Holzscheite entfacht. Ich kuschelte mich in das kratzige Ding, das nach Hund roch, und starrte in die Flammen.
    Artjoms Mutter war am Tisch beim Armetätscheln eingeschlafen, schwer ruhte ihre Hand auf meiner, sie schnarchte mit Wassja im Duett. Rostislav hatte sich mit einem Akkordeon abseits ans Feuer gesetzt und sang leise traurige Lieder, stimmlich nicht ganz sicher, aber voller Gefühl. So muss es in der Taiga sein, bildete ich mir ein, genau so.
    Der Sohn des Hauses war dichter an mich herangerückt und schenkte mir Wein ein. Attacke, Paula, dachte ich, die Gelegenheit ist günstig!
    »Herr Polyakow«, begann ich mit gelockerter Zunge, »was machen Sie eigentlich beruflich?«
    »Ich richte Bankette aus, Feiern, Kongresse – in ganz Deutschland. Hauptsächlich für Landsleute, die in Deutschland leben oder hier geschäftlich zu tun haben.«
    »Also ein Partyhengst?«, kicherte ich debil.
    »Nein, nein. Ich würde mich eher als Event-Manager bezeichnen, auf gehobenem Niveau.«
    Event-Manager, aha, ein durchaus ehrbarer Beruf.
    »Und Ihr Vater? Sie erzählten, dass er oft in Italien und der Schweiz ist.«
    »Hauptsächlich in Italien, ja. Er handelt mit Stoffen.«
    »Mit Stoffen?«
    »Genau. Er fährt zum Beispiel nach Mailand, kauft dort feines Tuch, lagert die Ware in Deutschland zwischen und verkauft sie dann an Textilfabrikanten in Russland, die auf der Suche nach guter Qualität sind.«
    Modebranche. Feines Tuch. Stoffe, die von Italien über Deutschland bis nach Russland exportiert werden. In jener lauschigen Nacht klang das mehr als plausibel und erklärte zugleich den ausgefallenen Kleidungsstil der Polyakows.
    »Und wie lange leben Sie schon in Deutschland?«
    »Seit über sechzehn Jahren.«
    »Ach, und Ihre Mutter spricht immer noch kein Deutsch?«, platzte es aus mir heraus.
    »Nun ja«, Artjom zögerte, »Mam ist so sensibel. Unsere Flucht aus Moskau hat sie damals sehr verstört, sie ist irgendwie in die innere Immigration gegangen und hat sich lange völlig aus dem Leben zurückgezogen. Noch nicht einmal Cello hat sie mehr gespielt. In letzter Zeit allerdings hatte ich das Gefühl, dass sie sich wieder ein wenig öffnet. Und dann kommt dieses Schwein und nimmt ihr das Wertvollste! Ich weiß nicht, ob sie sich davon noch einmal erholt, mit Ende fünfzig …« Artjoms Stimme schwankte.
    Merkwürdig, dachte ich, Darya kommt mir so handfest vor, gar nicht zart besaitet, aber ich kenne sie ja nicht. Neben mir unterdrückte Artjom trockene Schluchzer. Um ihn zu beruhigen und weil der Wein mich mutig und neugierig gemacht hatte, versuchte ich es mit einem Themenwechsel. Ich legte meine Hand auf seinen Arm – das schien mir eine landestypische Geste zu sein – und fragte: »Sie sagten gerade, Sie seien aus Moskau geflohen. Mögen Sie mir mehr davon erzählen?« Er mochte.
    Wie ich schon wusste, war seine Mutter eine in der Sowjetunion nicht unbekannte Solocellistin, ihre ganze Familie hatte sich seit Generationen der Musik verschrieben. Sein Vater Rostislav hatte als Professor für Geophysik an der Lomonossov-Universität gearbeitet, er entstammte einer Sippe berühmter Naturwissenschaftler und Mediziner. Dann kamen Gorbatschow und Glasnost und Perestroika, und das ganze marode System brach zusammen. Viele Betriebe und Institutionen konnten keine Gehälter mehr zahlen. Auch Rostislav an der Lomonossov war davon betroffen. Um seine Familie zu ernähren, stieg er nebenbei in die Modeboutique seines entfernten Cousins Maxim Moissejewitsch
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